Samstag, 26. Januar 2013

Die Dinge groß sehen (I): Eine schöne Frau mit Zigarette


Die anderen sind in Gespräche vertieft, es wird hin und her gelaufen, gelacht, die Pause ist kurz. Sie lehnt am Geländer. Die eine Hand tief in der Manteltasche vergraben, die andere führt die Zigarette immer wieder an ihren Mund. Den Kaffee hat sie auf dem Geländer abgestellt. Sie schaut zu. Was in ihrem Innern vorgeht, dringt nicht nach außen. Zwei Welten berühren sich, dringen aber nicht ineinander ein.

Wenn jemand auf sie zukommt lächelt sie offen. Was ist das für ein Mensch, was wird er wollen? Was kann sie ihm entgegenbringen? Sie weiß wie man sich benimmt, ist freundlich und zuvorkommend. Ihre Augen schauen offen, ihr Mantel ist geschlossen. Sie sorgt dafür, dass sie warm bleibt, ist gut gekleidet, phantasievoll und sehr raffiniert. Ihr trainierter Körper ist wohlkomponiert, durchgestaltet. Sie ist eine schöne Frau, die sich gerne bewegt.

Die Kraft ihrer Hände reicht weit über sie hinaus. Durch sie wird ihr Eingebettet-sein in der Welt unsichtbar sichtbar. Ihre Finger enden nicht mit ihren Fingerspitzen, ihre Gesten sind weit, offen und unverbrüchlich. Sie spürt die Atmosphäre, Himmel und Erde durch ihre Finger. Das Geistige erreicht sie körperlich. Sie ist viel größer als sie erscheint.

Ihre Fähigkeiten liegen darin Musik und Sprache sichtbar zu machen, sie kann sich zur Hülle, zu einem Gefäß machen, sie stellt sich zur Verfügung, bietet sich an. Wie sieht Sprache aus, wenn sie nicht in einem Buch geschrieben steht? Welche Farbe hat sie, welchen Klang? Das Unsichtbare wird komponiert, das Unerhörte geformt – es gibt eine Welt hinter der Welt.

Wir steigen in ihr Auto. Und sie fährt los. Alles andere als zaghaft, sondern einen flotten Sattel, sie beherrscht das Steuer. Sie überblickt die Verhältnisse, sieht, wo Platz für sie ist und findet die anderen Autofahrer meistens zu langsam. Autofahren kann sie souverän und fast wie James Bond. Ich lehne mich zurück und schaue sie von der Seite an.

Ihre Augen sind groß und weit, allerdings vom Zahn der Zeit gezeichnet. Sie sieht müde aus. Richtig müde. In der Kneipe frage ich sie, wie es ihr geht. Wirklich geht. Es dauert eine Weile, bis ihre Worte zu Mitteilungen werden. Ihr Blick wird fragend, ihre Augen unruhig. Die äußere Souveränität bleibt, die innere gerät in Bewegung. Ich sehe es an ihren Händen.

So gut es mir gelingt versuche ich ihr verstehen zu geben, dass sie aufgehoben, in ungefährlichen Gefilden ist. Dass die Welt ihr einen Moment schenkt, in dem sie ihre Unvollkommenheit zeigen darf, ihre Schwächen, ihre Ängste… Und sie beginnt zu sprechen. Von Großem und ganz Kleinem. Und von der Frage, wie das alles zu verstehen ist. Die äußere Hülle bricht auf. Jetzt muss sie nicht funktionieren – was sie so gut kann.

Die Fragen werden groß, die Welt wird weit – die Gesellschaft klein und eng – und das Mysterium des Mensch-seins erblüht in seiner Undurchdringlichkeit. Im Zeitstrom, in der Funktionalität der Arbeitswelt, zwischen Gut und Böse. Wozu? Warum das alles? Worum geht es? Es sind weniger die Worte als die Gesten und ihr Blick, die verraten, wo sie sich befindet.

Sie braucht eine Zigarette, wir gehen vor die Tür. Den Rauch in ihre Lungen einzulassen bedeutet, der Welt die Tür zu öffnen und gleichzeitig den eigenen Festpunkt, das irdische Sein zu spüren. Die Zigarette ist der Schnittpunkt in der Lemniskate zwischen Individuum und Welt. Als sie sich wieder fasst, spricht sie weiter. Fragend und ein bisschen verloren, ihre Gesten werden hilflos und ein bisschen wütend, ihre Augen groß und weich. Tränen entstehen. Die Unbehaustheit der Welt ergreift sie, nimmt von ihr Besitz, ich habe nichts dagegen zu setzen.

Es sind die Fäden zwischen Menschen, die sie tragen, die das Leben lebenswert machen. Und es sind die Fäden, die den Schmerz fühlbar machen, die Angst, das Verlorensein im Kosmos. Ungeborene und Verstorbene reichen ihr die Hand, die Lebende manchmal nicht anbieten. Ihr Schmerz ist fühlbar. Tapfer steht sie am nächsten Morgen wieder auf und macht weiter. Im Getriebe des Alltags, die schöne Frau.

Sonntag, 6. Januar 2013

Die Dinge groß sehen. Über den weiten Wurf des Lebens



„Einander mit Opferbereitschaft gegenübertreten und keine Angst davor haben, dass der andere einem die Butter vom Brot nehmen will – das geht nur, wenn man das große Ganze im Auge hat, wenn man weiß, welches der rote Faden ist, der sich durch alle anthroposophische Arbeit zieht. Rudolf Steiner hat uns große Bilder geschenkt, wie zum Beispiel das vom Übergang der Erde in den künftigen Jupiter. Wir werden immer stärker den Mut entwickeln müssen, von diesen großen Bildern ausgehend zu denken, und vor allem auch den Mut, uns gegenseitig im Licht dieser großen Bilder zu sehen. Statt die anderen kleiner zu machen, können wir lernen, einander größer zu sehen.“[1]

Immer wieder, wenn ich drohe in meinem Alltag, mit all den vielen kleinen Sorgen, Verpflichtungen, Versäumnissen, Unbehaglichkeiten oder sonstigen Nöten unterzugehen, greife ich zu Texten, in denen der Wurf des menschlichen Daseins größer gefasst wird, aus denen ich Hoffnung schöpfen kann.

Dann suche den Zusammenhang, Bilder, die nicht nur den Sonnenuntergang, sondern auch den
-aufgang schildern, die von den Nuancen sprechen, wenn die Sonne knapp über dem Horizont erscheint, wenn sie strahlend und heiß, manchmal auch fast vernichtend im Zenit steht, wenn sie hinter Wolken versteckt wird, hinter Nebel oder Regenschauern, wenn sie der Erde fern oder nahe ist, wenn sie sich dem täglichen Untergang neigt.

Mein Leben findet immer im ‚Hier und Jetzt‘ statt. Aber ebenso wird es ‚Dort und Dann‘ stattfinden. Sowie ‚Da und Damals‘. Ich bilde eine Welt für mich. Ich sitze jetzt hier am Computer und schreibe. Mein Bewusstsein ist darauf gerichtet, meine Gedanken in Worte zu fassen und sie nieder zu schreiben.

Gleichzeitig bestehe ich aber auch aus all dem, was ich erlebt habe. Wo ich gewesen bin, wen ich getroffen habe, was das mit mir gemacht hat… Und ich bestehe auch aus dem, was noch kommen wird. Egal, ob ich die Zukunft als Mitspieler in meinem Leben betrachte oder ob ich ein Zuschauer bin. Ich bin nicht nur ein gegenwärtiges Ich, sondern ich bin gleichzeitig auch mein vergangenes und mein zukünftiges Ich.

Diese Welt, in ihrer Elastizität der Zeit, die ich für mich ausmache, gehört mir. Sie ist mein Eigenleben, mein Inneres, das von meinen Wünschen, Vorsätzen und Entschlüssen lebt – getreu meinen Motiven, die mich leiten, manchmal auch unbewusst – sowie von meinen Ängsten, Wunden und Schwächen. Jedes Individuum macht eine Welt für sich aus. Und diese Welten gehen auseinander hervor.

Wenn ich nicht weit genug schaue, dann wird mir manchmal angst und bange. Wie geht das alles weiter? Was wird kommen? Was geschehen? Und vor allen Dingen: wohin führen mich meine eigenen Taten? Dienen sie dem menschlichen Miteinander? Dienen sie einer herzlichen Zukunft? Oder drohe ich in meinem Alltag unterzugehen, weil ich die Steuer für mein Auto noch nicht bezahlt habe und gerade gar kein Geld dafür habe?

Die Dinge groß sehen, Menschen groß sehen, uns gegenseitig groß und schön und strahlend sehen… möchte ich in diesem Jahr. Mein Medium ist die Sprache, ich werde Texte über Menschen schreiben. Werde mich darin üben sie groß zu sehen, sie in ihrer Sonnen- und Schattenseite zu beschreiben, in ihrer Welt, die andere Welten greift, aus der wir alle hervorgehen und aus der wir unseren Alltag schöpfen, der in seiner Kleinkariertheit uns manchmal droht uns das Genick zu brechen.

[1] Bernard Lievegoed: Über die Rettung der Seele. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 3. Auflage, 1994, Seite 111.