Samstag, 20. Oktober 2012

Schreiben in Farben. Über Gefühle


Ich fühle mich wie der offene Raum zwischen Stier und rotem Tuch. Die Macht ist groß, die auf das Tuch zu läuft, ja, in Wallung und Rage gerät und davon so in Bann gezogen ist, dass es keinen anderen Weg mehr gibt. Der Zorn und die Wut im Zwischenraum richten sich auf ein Ziel. Geradewegs. Und die Ausrichtung lässt sich nicht durchbrechen, Gedankenstrahlen, stark wie Stahl, sind es, die das Unmögliche möglich machen. Das tanzende, leichte Tuch, das im Winde schwingt, beherrscht den mächtigen Stier, als wäre es unvermeidbar.

Ich fühle mich wie ein fallendes, gelbes Herbstblatt, das der Wind davon trägt und es tanzen lässt. Die Zeit des Blattes ist vorbei, es hat ausgedient. Es ist gewachsen und hat gestrahlt. Und dann ist es in sich zusammengefallen, trocken und leicht geworden. Vergilbt. Und schließlich wurde es davon geschickt. Der Wind hat es aufgenommen, noch segelt es durch die Oktobersonne. Aber das Schicksal ist klar, einst wird es landen. Auf Asphalt, einem Blechdach, einer Regenrinne oder dem Erdboden. Und die Metamorphose lässt sich nicht aufhalten, Transformation ist unumgänglich.

Ich fühle mich wie das Blau eines Auges, das ins Leben strahlt und doch nichts sieht. Es ist nur Umkreis, mal größer, mal kleiner, aber blau und blau und blau. Das Auge reflektiert den Himmel und das Meer. Alles erscheint in der Farbe der Ewigkeit, mal dunkler, mal heller. Kein Festpunkt ist zu markieren, Fläche und Tiefe und Horizont und Weltenmitternacht. Das Blau macht weit und groß und ist sanft wie eine Feder, die vom Himmel herabfällt. Im Blau sich verlieren, sich vergessen, sich finden.

Ich fühle mich wie eine schwarze Socke an einem linken Fuß. Überall muss sie mit gehen, schnell und langsam, beschwingt oder gemessen. Würdig, wie zu einer Beerdigung und unerkannt in einem Stiefel steckend. Das Schwarz grenzt ab und macht deutlich, es setzt Zeichen und mahnt. Es gebietet Respekt und hält einen würdigen Abstand zu allem und jedem. Die Trauer hat es im Abonnement und der Ernst versucht es ihr gleich zu tun. Wenn das Schwarz sich entblättert zeigt sich nackte, verletzliche Haut.

Ich fühle mich wie eine grüne Heuschrecke, die den Abgang verpasst hat. Hüpfend von Gelegenheit zu Gelegenheit. Mal trägt der Grashalm und mal knickt er ein. Die Schwingen glänzen wie Tautropfen, durchsichtig und zart. Nur die Oberschenkel sind kräftig und zu Sprüngen bereit. Natur ist von Nöten, Gras und Gebüsch. Brennende Sonnenstrahlen und laue Sommernächte. Im eisigen Wind der Stadt bleibt der Heuschrecke das Herz stehen, die Flügel erschlaffen, die Schenkel erlahmen. Das Grün verliert sich in sich selbst.

Ich fühle mich wie ein violetter Amethyst, der aus einem Vogelnest fällt und plötzlich im Gras liegt. Ein Stein will liegen und nicht fliegen. Sucht Ruhe und Bedächtigkeit, Bewegung ist ihm zuwider, er kann sie nicht vollbringen. Er hat weder Flügel noch Füße, weder Arme noch Kopf. Der Stein ist Mysterium und Öffnung zugleich, weder Zeitstrom noch Himmelsrichtung ist von Bedeutung für ihn, er kennt das Leben nicht, sondern sonnt sich im Sein. Violette Ruhe durchdringt den Schein.

Ich fühle mich wie ein kleiner brauner Apfelkern. Der Keim schlummert und trägt die Zukunft in sich. Der Apfelkern sucht eine verlässliche Geborgenheit, damit er schlafen kann. Ruhig und still. Denn sein Erwachen liegt in ihm, ja einen ganzen Baum trägt er in sich, mit Zweigen, Ästen, Blättern, Früchten, einem Stamm und vielen, vielen Apfelkernen. Wenn er schlafen darf und nach dem großen Frost erwachen wird, kann das Wunder geschehen. Noch aber sorgt sich der Keim um einen geeigneten Platz.

Ich fühle mich wie ein kleines Stück Gold im Herzen von Menschen. Geschützt und geborgen, wohlbehütet und umsorgt. Ein Schatz im Getriebe der Metropole. Unerkannt und verborgen. Leuchtend und still. Die Diktion des Goldes liegt auf dem Meeresboden und will von Fingerspitzen ertastet werden. Es trägt und wärmt, spricht alle Sprachen und lässt sich von Menschen in Form bringen. Gold lügt nicht, es erzählt die große Geschichte der Unendlichkeit und reicht vom Gestern bis ins Morgen. Goldfäden, unsichtbares Lametta, verbinden Menschen.