Sonntag, 24. Juni 2012

Ziehende Landschaft

Man muß weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muß den Atem anhalten, bis der Wind nachläßt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sein
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin

Sonntag, 17. Juni 2012

Mit dem Zeugnis der Reife am Schnittpunkt zur Zukunft. Vom Finden


Ich suche nicht - ich finde.
Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen
und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.
Finden, das ist das völlig Neue.

Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt.
Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.

Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen,
die im Ungeborgenen sich geborgen wissen,
die in der Ungewißheit, der Führerlosigkeit geführt werden,
die sich vom Ziel ziehen lassen
und nicht selbst das Ziel bestimmen.

Pablo Picasso

LieMi, nun gilt es nicht mehr die „richtigen Antworten“ zu suchen und zu finden. Nein, es geht überhaupt nicht mehr um Antworten, sondern es geht um deine Fragen, offene, freie Fragen, denen du nachgehen möchtest, deren Spur du verfolgst. Es geht nicht mehr darum, etwas zu finden, was andere von dir wollen, sondern es geht darum, das zu suchen und zu finden, was in deinem Herzen lebt.

Denn nun hältst du es in deiner Hand, das Zeugnis der Reife. Die Schule, in die du dreizehn Jahre lang gegangen bist, entlässt dich mit einer Bescheinigung darüber, dass du nun „reif“ seist, um von der Gesellschaft „geerntet“ zu werden – dich einzubringen. Du hast rechnen, lesen und schreiben gelernt. Zwei fremde Sprachen haben ihre Türen für dich geöffnet, du hast dich der Kunst gewidmet, hast Musik, Sport, Eurythmie und vieles mehr gemacht.

Es gab Klassenreisen nach Sylt und nach Estland und verschiedene Praktika im In- und Ausland, ihr habt Theater gespielt, auf der Bühne gesungen, getanzt und gelacht. Du hast eine Biographiearbeit über Anne Frank geschrieben und vorgetragen und dich in deiner Jahresarbeit mit der Situation der Frauen im Islam auseinandergesetzt.

Dein Weg in die Schule war nicht weit. Manchmal bist du mit dem Fahrrad dorthin gefahren, gerne aber mit dem Auto. Früher auf dem Rücksitz, dann auf dem Beifahrersitz und seit einiger Zeit besonders gerne auf dem Fahrersitz. Die Schule hat einen großen Raum in deinem und unserem Leben eingenommen. Aber das wird nun alles anders – die Schule liegt hinter dir, der Horizont der Zukunft offen vor dir!

Die „große Freiheit“ ist es, die nun ruft. Was wird geschehen, was wirst du machen? Die Schulpflicht ist längst geschafft, das Abitur hast du in der Tasche und nun kannst du deinen Blick frei nach vorne richten - in dem du auf dein Herz hörst. Obwohl wir ja wissen, dass die Zukunft aus der Vergangenheit hervorgeht, ist der Weg, den deine Füße gehen werden, doch unbekannt. Noch wissen wir nicht, wohin sich dein Blick richtet, was deine Hände tun werden. Sicher bin ich aber, dass sich dein Weg zeigt und du genügend Kraft, Mut und Stärke hast, ihn zu gehen – was immer da kommt.

Du bist ein willensstarker Mensch, der die Hürden nimmt, wenn das Ziel dir erstrebenswert erscheint. Zaghafter bist du, wenn es um Neues, Unbekanntes, Abenteuerliches geht und nicht unbedingt klar ist, was dabei herauskommt. Aber nun ist der Leistungsdruck weg und du bist frei dich auf die Welt einzulassen, dich eigenständig mit ihr zu verbinden und dich frei zu bewegen.

Ich wünsche dir, dass du weiterhin deine Liebe zu den Pferden pflegst, dass du das Klavierspiel beginnst, deiner Neugier auf die Geheimnisse der Welt mit Taten begegnest, die lauen Sommernächte mit einem Glas Wein einläutest und das tust, was du wirklich, wirklich willst. Die letzten zwanzig Jahre haben dich für deine Eigenständigkeit gerüstet, so dass du voller Stolz an jeglicher Ecke beginnen kannst frei weiterzugehen. Der Weg entsteht unter unseren Füßen, wenn wir ihn gehen…

LieMi, ich bin stolz auf dich, tapfer warst du, ausdauernd und willensstark. Die Schulzeit, die ja nicht immer einfach war, so glorreich zu beenden ist ein schönes Signal. Lass dich nicht beirren, mache dich nicht kleiner als du bist, sondern geh mutig und aufrecht in fremde Gefilde. „Frage dich nicht, was die Welt braucht. Frage dich lieber, was dich lebendig macht. Und dann geh hin und tu das Entsprechende. Denn die Welt braucht nichts so sehr wie Menschen, die lebendig geworden sind." (John Eldredge)

Von ganzem Herzen alles Liebe und Gute dir – dein Zuhause bleibt eine beständige Insel für dich, auf die du immer zurückkommen kannst!

Sonntag, 10. Juni 2012

Rosen für vier ferne Gefährten am 10. Juni. Irgendwie

Ich habe Rosen gekauft. Einen strahlenden Strauß leuchtender Rosen. Für euch Vier. Irgendwie. Er steht vor mir und lächelt in die Welt. Ja, bei aller Bescheidenheit sind es doch elegante und prächtige Rosen, die von der Schönheit des Lebens zeugen. Ich kann euch die Rosen physisch nicht übergeben. Drei von euch sind bereits verstorben, zu einem von euch fehlt die direkte Verbindung. Die Rosen werden also hier stehen bleiben und mich die nächsten Tage begleiten.

Du hast heute Geburtstag. Letztes Jahr haben wir noch zusammen gefeiert. Heute werden wir „ohne dich“ feiern und vermutlich doch irgendwie mit dir, denn es ist „dein“ Geburtstag. Du bist vor einigen Monaten verstorben. Plötzlich und unerwartet „abberufen“ worden. Dein Bild steht auf meinem Küchentisch und ich sehe dein fotographisch festgehaltenes Lächeln jeden Tag. Die Frage nach dem „Sinn“ deines Todes schwebt und webt und baumelt noch immer haltlos im Raum - irgendwie.

Seit du tot bist, bist du mir näher als vorher. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht irgendwie an dich denke. Unsere Gespräche zwischen hüben und drüben haben meist monologischen Charakter, aber manchmal treten wir auch in einen Dialog. Du bist dann plötzlich da. Tagsüber kann es vorkommen, dass ich deine Stimme höre, deine Gesten sehe, mich von deinem Blick umfangen fühle. Und manchmal tauchst du des Nachts in meinen Träumen mit kräftigen Bildern auf.

Und auch du hast heute Geburtstag und bist eigentlich gar nicht so viele Kilometer von mir entfernt, wenn du noch dort wohnst, wo du damals wohntest. Das Leben hat uns auseinander getrieben – obwohl wir doch so eine weite Strecke miteinander gelaufen sind. Irgendwie ging es dann nicht mehr. Es waren auch so viele Menschen beteiligt – ich weiß gar nicht mehr, wie ich das alles auf einen Punkt bringen könnte.

Wir hatten ähnliche Ziele, ließen uns von gemeinsamen Visionen tragen, waren voller Ideen, Kreativität und haben auf der praktischen Ebene richtig etwas gemeinsam geschafft. Irgendwann verknotete sich das Schicksalsnetz dann auf der Ebene des beruflichen Miteinanders. Und das kostete uns, irgendwie, die Freundschaft. Aber ich denke heute an dich und wünsche dir alles Liebe und Gute zum Geburtstag.

Und auch du hast heute Geburtstag. Du bist mein Großvater und ich kenne dich nur von einem einzigen Foto. Lange vor meiner Geburt bist du verstorben – an den Folgen des Krieges. Aber ich habe viele Erzählungen über dich gehört, und so habe ich dich doch, irgendwie, kennengelernt. Ob meine Vorstellung von dir, die Bilder, die ich mir in meiner Phantasie von dir gemalt habe, mit der „Wirklichkeit“ übereinstimmen, weiß ich nicht.

Du gehörst zu meinem familiären Band. Physisch bin ich auch aus dir, durch dich hervorgegangen. Irgendwie. Im Sommer werde ich in deine Heimat reisen. Dorthin, wo du geboren wurdest, wo du gelebt hast – bevor ihr vertrieben wurdet und auch dorthin, wo du verstorben bist – so plötzlich, so sinnlos und so unendlich traurig für deine Frau und deine Söhne.

Und Du hast heute nicht Geburtstag. Nein, heute ist dein Todestag. Aber du bist genau am Geburtstag deines Mannes gegangen. Heute vor zweiundzwanzig Jahren. Du warst diejenige, die mir von meinem Großvater erzählte, denn du warst die entsprechende Großmutter. Dir hat er gefehlt – du hast so viel von diesem fremden Mann erzählt, der mir im Laufe meiner Kindheit immer näher kam.

Du hast lange gelebt und warst mir sehr nah. Deinen Tod habe ich begleitet, so kurz nach der Geburt meiner Kinder. Geburt und Tod so eng beieinander. Es ist ein Kommen und Gehen aus und in die geistige Welt. Und du bist da, noch immer da, irgendwie, und ich habe meinen Kindern so viel von dir erzählt. Davon, dass du immer dann so glücklich warst, wenn du mir eine Freude machen konntest.

Und so sitze ich hier vor dem Rosenstrauß, den ich für euch gekauft habe und grüße euch. Schicke meine Grüße von hier nach dort. Von mir zu euch. Möge es euch „gut gehen“, dort, wo ihr seid, bei dem, was ihr „macht“. Ich freue mich, dass ihr fernen Gefährten auch irgendwie zu meinem Schicksalsnetz gehört. Alles Liebe euch!

Sonntag, 3. Juni 2012

Signale aus der Ferne. Semai öffnet eine Tür


Sie liest die ersten Zeilen in dem neuen Buch und Semai weiß es wieder. Unmittelbar hört sie den schaurigen Klang aus der Ferne – wie silberne Perlen auf einer Tränenkette reihen sich die Buchstaben aneinander und verbinden sich zaghaft zu einer Melodie. Leise klingt es, schmerzvoll schön. Sie schließt ihre Augen, lässt sich auf die inneren Bilder ein und versucht zu folgen.

Und sie spürt es schon, er wird wieder kommen. Der innere Abgrund ist stets ein treuer Begleiter. Jedem den seinen. Sie sitzt im Garten, die Sonne scheint und kleine Vögel zwitschern. Die Pfingstrosen blühen und übergeben sich in ihrer Fülle dem Licht. Die Welt ist friedlich und ihr Herz klopft leise. Ist sie bereit, dem Abgrund, dem Schmerz an diesem Nachmittag wieder ihre Arme zu öffnen, durch ihn hindurch zu gehen?

Und sie hört plötzlich die Stimme ihrer Mutter, wie sie einst so nebenbei erzählte: Ja, damals, als du geboren wurdest... Du warst ein zufriedenes Baby. Schon nach wenigen Tagen hast du lange geschlafen. Und so sind wir abends ausgegangen. Und haben dich als kleinen Säugling schlafen lassen. Allein in der Wohnung. Und manchmal, ja manchmal kam es vor, dass wir wieder kamen und du in deinem Bettchen lagst und erbärmlich schriest. Puterrot warst du dann und deine Stimme nur noch ein Krächzen. Nur langsam ließest du dich dann beruhigen…

Und sie erinnert sich auch an die Worte ihres Vaters, die er einst niederschrieb: Ja, als ihr Kinder wart, dein Bruder und du, und wir in dem großen Haus mit den vielen Menschen wohnten, da sind wir abends öfters ausgegangen. Und es kam wohl vor, dass wir wieder kamen und das ganze Haus zusammen lief, weil ihr beiden in dem großen, kalten Treppenhaus standet und weintet und schluchztet und kaum zu beruhigen wart, weil wir euch allein gelassen hatten und ihr aufgewacht seid…

Und da ist das alte Gefühl wieder. Sie kennt den Rand des Abgrunds so gut. Aus diesem Leben. Und den vorigen. Das Gefühl ist alt. Die Angst davor alleingelassen, zurückgelassen zu werden… In diesem Schmerz ist sie zu Hause. Sie liebt ihn. Sie hasst ihn und sie verdammt ihn. Und immer wieder fällt sie hinein und weiß nicht, wie sie wieder heraus kommen soll. Semai steht, wie auf einem hohen Sprungbrett im Schwimmbad und zögert. Vorwärts, rückwärts, das Gleichgewicht halten und stehen bleiben?

Immer wieder sind es diese Momente, die sie an die ferne Vergangenheit mahnen und den Schreck hervorrufen. Den entscheidenden Augenblick in der großen Geschichte. Der Schmerz zerrt an ihr und sie kann kaum mehr nach vorne schauen, Tränen verwehren ihr den Blick. Wo sind die Menschen, die Freunde und Gefährten? Wo ist das warme Gefühl des Aufgehoben seins?

Was war es, was damals geschah? Und sich symbolhaft wiederholt? Es ist der schaurig-schöne Klang in ihrem Herzen, den sie kennt und dem sie folgt – weil sie davon überzeugt ist, dass sich aus der Vergangenheit die Zukunft gebiert. Und alles – doch – noch – irgendwie – gut wird.

Schicksal nennt man das Sein eines Menschen in seinen konkreten Lebenszusammenhängen. Und Ja sagen solle man dazu – das gäbe Kraft heißt es. Ach, gewillt ist sie schon, aber schwer ist es doch. Sie kann gut alleine sein, das ist es nicht. Aber die Angst vor dem Verlust umzingelt sie immer wieder wie ein alter Schatten, der am Rand des Abends vergessen wurde. Sie braucht die Gefährten.

Wenn Senai allein so traurig ist, dann ist sie sanft und schön. Und auch der Schatz ist noch immer da. Aber er ist in einer Falte versteckt, damit ihn niemand sieht. Und manchmal, wenn sie im Alltag aufmerksam ist, dann nimmt sie die Signale wahr und erzählt davon – wenn sie kann. Es sind die undurchdringbaren Geschichten, das Gold der Armen, die Erzählungen der Geschehnisse, die niemand versteht.

Denn auch sie weiß nicht, was es zu erzählen gibt. Aber sie weiß, welche Momente es in ihrem Leben sind, die die karmischen Erinnerungen heraufbeschwören. Und sie glaubt daran, dass die Wunde einst heilt, und dass sie, Hand in Hand mit sich selbst, den Abgrund souverän durchschreiten wird, um mit den Gefährten ein neues Land zu erobern.