Sonntag, 29. April 2012

Begegnung. Von Schreibern, Lesern, Texten und der Stille zwischendurch


Gibt es Leserinnen und Leser, die einen Text erwarten? Die nach einer dunklen Nacht erwachen und daran denken nachzuschauen, was es Neues gibt? Noch gibt es keinen Text, über den sich Schreiber und Leser begegnen könnten. Das Internet ist zwar virtuell, aber es braucht doch materialisierte Buchstaben. Der Text schwebt noch im Vagen, Nicht-greifbaren, er ist noch nicht in Reichweite. Und in der Seele des Schreibers mäandern die verschiedenen Themen.

Er schaut auf Anna und nimmt ihr Diktat auf, um zu prüfen ob sie das Thema seines Textes bereithält:

„Der Morgen ist still und bildet in meiner Seele einen Kreuzungspunkt. Was gestern war ist der Vergangenheit anheimgefallen, was morgen kommt ist noch hinter dem Schleier des Zukünftigen verborgen. Mir zu Gebote steht die Gegenwart, das Jetzt, der gegenwärtige Moment, der sich mir anbietet und etwas von mir will.“

Anna spricht weiter: „Ich spüre es unmittelbar, ich möchte erzählen, dir mein Leben diktieren. ‚Still‘ und irgendwie ohne Worte will ich davon erzählen, was in mir lebt, was ich erlebe, worauf ich zulebe. Möchte meinen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten begegnen und sie teilen, sie aus mir heraussetzen. Ihnen einen Geleitschutz geben, von innen nach außen, um sie dann neu anzusehen und ihnen wieder zu gestatten, sich hinter die Tür des geschützten Innenraums zu begeben.

Ich will an meinen Traum anknüpfen, den ich in der Nacht gehabt habe. Ich saß in einer Prüfung. Es ging um eine schriftliche Klausur im Fach Chemie. Ich musste Begriffe und Zusammenhänge erklären. Und konnte es nicht. Hatte mich seit Jahren nicht mehr mit so einem Thema beschäftigt und war komplett ratlos, wie ich aus dieser unangenehmen Situation wieder herauskommen könnte. Ich versuchte beim Nachbarn abzuschreiben. Aber seine Schrift ließ sich nur schwer entziffern.“

Dem Schreiber wird es schwer ums Herz und er schaut auf Sirka. Was sie wohl zu sagen hat? Er übersetzt ihre stockenden Worte, die sie leise aber überzeugt von sich gibt:

„Tag für Tag komme ich meinem Tod näher. Zeitlich entferne ich mich immer weiter von meiner Geburt. Der Zenit ist überschritten, der Bogen neigt sich. Ob es Tage, Wochen, Monate oder Jahre sind, die mich von dem Punkt der Umstülpung abhalten, weiß ich nicht. Die geistige Welt scheint mir eine warme Heimat zu sein, in der ich mich daran gewöhnen muss, dass es keine Farben gibt.

Hier im Garten blühen Blumen und Vögel singen. Alle Sinne bekommen Geschenke. Die Sonne strahlt auf jeden herab, schenkt ihr Licht und ihre Wärme und kreiert damit eine frühlingshafte Wirklichkeit. Ich bin ein Gast auf dieser Welt, so wie jeder und ich weiß nicht, ob ich mich gut genug einfüge, um noch ein Weilchen zu bleiben.

Die Wunde ist präsent und offeriert täglich eine Dunkelheit. Sie fehlt sich selber, sieht die Goldspur darin nicht. Hin-sterben, nach-sterben, so wie es Novalis getan hat. Den Schmerz preisen, würdigen, ihm den ersten Platz verleihen“ – beginnt sie ihr Statement zu diesem Tag.

Nun schaut der Schreiber, ob der Melancholie leicht irritiert, auf Juri, der strahlend auf der Wiese sitzt und fragt ihn, wie es denn heute um ihn bestellt sei, ob er ein Thema für ihn habe:

„Auch wenn wir glauben, dass das Schicksalsnetzwerk etwas sei, woran es sich festhalten ließe, so muss dem Umstand doch Rechnung getragen werden, dass es ständig in Bewegung ist und dass sich somit alle Beteiligten immer wieder neu positionieren müssen. Es geht nicht um irdische, sondern um ätherische Festpunkte, die ihrer Logik folgen, und sich meistens der menschlichen Intelligenz entziehen“ – beginnt er zu proklamieren.

„Wenn ein Einzelner aus dem Gefüge gerät, zum Beispiel in dem er vorzeitig stirbt, bleibt ein Loch, ein leeres Loch, denn der Verstorbene ist nicht ersetzbar. Weil er doch einmalig ist – vergiß das nicht! Gleichzeitig ist es aber so, dass seine Rolle, seine Funktion, seine Aufgabe von anderen übernommen werden müssen, da die Welt in ihrem Fortgang nicht innehält, sondern sich unerbittlich weiter dreht. Wir müssen einander tragen und ganz viel voneinander wissen!“ – ruft er und ist dabei verzweifelt entrückt.

Das Herz des Schreibers wird schwer. Die Themen seiner Nächsten sind dunkel. Er will darüber nicht schreiben. Will sich weder eine Frühjahrsdepression einhandeln, noch versuchen tonnenschwere Wahrheiten zu entschlüsseln. Der Schreiber beschließt zu schweigen und wartet ab, was die Leserinnen und Leser zu seiner Stille sagen.

Sonntag, 22. April 2012

Im Herzen barfuß. Karma und Alltag

Welche Bedeutung haben persönliche Nöte für die Welt? Davon ausgehend, dass wir als Menschen in einem großen Schicksalsstrom stehen, der sich im Wechsel über Inkarnationen zwischen geistiger und irdischer Welt abspielt, bewegt sich die Frage, wie sich persönliches Schicksal vollzieht, und wann und wo wir es mit dem Menschheitsschicksal zu tun haben, das über die Individualität des Einzelnen hinausgeht.

Die Geschichte der Menschheit spielt sich auf der Erde ab. Sie wird von Menschen, also Millionen einzelner Individuen vollzogen und gräbt sich in die Erde ein. Die Erde bewahrt in ihren Erdschichten das menschliche Schicksal, den Vollzug gelebten Lebens, auf der physischen, seelischen und geistigen Ebene – wenn wir die Hinterlassenschaften angemessen zu deuten wissen.

Die Geschicke der Menschheit werden jedoch in der geistigen Welt gelenkt. Dort werden Taten und irdische Vorgänge mit Abstand betrachtet, denn die geistige Welt kann nicht handeln, sondern nur die Zusammenhänge koordinieren. Die scheinbar kleinen „Dinge des Lebens“ werden von einer geistigen Perspektive aus angeschaut und verarbeitet, beurteilt und weiter geführt. Die geistige Welt überblickt den großen Bogen zwischen persönlichem Schicksal und Menschheitsentwicklung. Sie verfolgt die Weite und die Größe und schickt manchmal einen Engel auf die Erde, wenn es für den begrenzten irdischen Geist (und damit auch die menschliche Seele) zu eng und zu dunkel wird.

Und weil der menschliche Geist unantastbar ist, wie es Bernard Lievegoed in seinem Buch „Über die Rettung der Seele“ sagt, haben es die Gegenmächte auf die menschliche Seele abgesehen. Die menschliche Seele ist das Schlachtfeld im Kampf zwischen guten und bösen Mächten. Ist Schauplatz des persönlichen wie des Menschheitskarmas. Wie und wo sollte sich sonst das Menschheitskarma zeigen?

Karmische Belange anderer Generationen, die weitergeführt werden wollen (oder müssen), weil sie noch nicht transformiert und damit „vollzogen“ sind, werden nicht über ein Spruchband von einem Hubschrauber durch den Himmel gezogen, damit sich der eine oder andere überlegt, ob er vielleicht eine der Aufgaben ergreifen will, sondern sie offenbaren sich in drängender Form unmittelbar in der Seele von Einzelnen qua Betroffenheit, Berührt sein, über Gefühle, Ängste oder Ahnungen.

Nur wenn es Menschen gibt, die sich für ihre Mitmenschen und die seelischen Varianzen öffnen und ihnen nachspüren, in dem sie über ihren eigenen Schmerz und damit über sich selber hinausgehen, weil sie wissen, dass ihre persönlichen Nöte allgemeinmenschliche Belange sind, die die Welt etwas angehen, kann das Gute, das Wahre und das Schöne (deren unmittelbaren Kräften die alten Griechen noch habhaft waren) irgendwie erreichbar bleiben.

Menschheitsgeschichte spielt sich vom irdischen Standpunkt aus betrachtet in der menschlichen Seele ab. Und diese Seele bebt zwischen irdischer Leiblichkeit und geistiger Ausrichtung. Aus diesem Grund ist es verständlich, warum es so unendlich wichtig ist, im Kindesalter für den seelischen Bereich eine grundlegende „Verlässlichkeit“ aufzubauen. „Verlässlichkeit“ in menschlichen Bezügen, in Beziehungen, Werten, Traditionen und dem jeweils spezifischen Blick auf die Welt.

Viele Menschen sind heute gerade in dieser Hinsicht einem großen inneren (und damit seelischen) Chaos ausgesetzt. Das kleine und so oft überstrapazierte Wort „innere Identität“ gehört heute zu den großen Playern auf der Bühne des Weltgeschehens – allgemeinmenschlich und persönlich. Sich selbst mit Stärken und Schwächen zu kennen und Mitmenschen, Gefährten, Freunden und Kollegen zu vertrauen, sind die großen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Es scheint so, dass für viele Menschen gerade dieser Bereich eine glatte Felswand darstellt – finden menschliche Zerwürfnisse doch gerade an solchen Wänden statt.

Christus sitzt nicht in einer Pumpe. Nein, der seelische Herzbegriff geht über die naturwissenschaftliche Mechanik hinaus – er ist weiter, größer, erhabener. Christus als Herr des Karmas macht sich in meinem Herzen bemerkbar, wenn ich mich berühren lasse, wenn ich mich öffne und still werde, wenn ich beginne zu lauschen, Ahnungen nachzuspüren, Tränen zuzulassen, wenn ich „ergebnisoffen“ an einen Prozess herangehe, wenn ich mich barfuß, nackt und bloß zeige. Die Angst vor dem Unbekannten, dem Neuen und Großen lässt mich oft klein werden, zieht mich zusammen, verhindert den offenen Blick. Christus weitet, öffnet und wärmt Herzen – wenn ich ihn lasse.

Menschheitsgeschichte spielt sich in unserem täglichen Leben ab, im Alltag, in den kleinen Dingen zwischen mir und dir. Ohne die Nöte in unserer persönlichen Seele gäbe es kein Menschheitskarma (und kein Menschheitsdrama), gäbe es nicht den großen Wurf einer menschheitlichen Entwicklung. Handlungsträger ist im großen Drama zwischen Leben und Tod, zwischen Leib, Seele und Geist, guten und bösen Mächten, zwischen Himmel und Erde die menschliche Seele, der Bereich unseres Herzens, der sich den Gegebenheiten des Zwischenmenschlichen aussetzen muss, um daran zu erwachen, zu wachsen, um mitzugestalten – oder um einzuknicken, wenn es zu schwer wird.

 Zwischen Himmel und Erde sind wir als inkarnierte Menschen mit einem Herzen ausgestattet, in dem es sich nur barfuß gehen lässt. Denn barfuß sind wir gewöhnlich für die kleinen, feinen und delikaten Dinge und Zusammenhänge des Lebens empfänglich, für die es sich lohnt, die Mühen eines Erdenweg auf sich zu nehmen.

Samstag, 14. April 2012

Kriegsenkel sein als Schicksal (VI). Über das Ankommen eines Themas in der Gesellschaft

Eine Woche vor Ostern kamen an der Göttinger Universität ca. 140 Menschen zusammen, die sich mit dem Thema „Die Kinder der Kriegskinder“ auseinandergesetzt haben. Die „Gesellschaft für Psychohistorie und politische Psychologie“ (GPPP) hatte zu einem Kongress eingeladen. Das Programm versprach abwechslungsreich zu werden: Berichte von Betroffenen sollten Beiträge von Fachleuten - Psychologen, Therapeuten, Historikern, Erziehungs- und Literaturwissenschaftlern, Theologen, Schriftstellern, Ärzten und Soziologen – ergänzen und bereichern.

Und, um es vorneweg zu sagen: Das ist gelungen! Ein dichtes Programm lenkte den Blick von Aspekt zu Aspekt. Es war, als wenn sich einzelne Blumen in ihrer Vielseitigkeit nacheinander zeigten. Zwischen den Vorträgen öffnete sich dann der ganze Strauß, die Zuhörenden wurden zu Beteiligten. Die Beiträge waren ernst und nicht selten von emotionaler Betroffenheit geprägt. Die Thematik zeigte sich weit und groß und reichte bis tief in die Erde hinein – scheinbar Vergangenes zeigte sich in heutiger Präsenz.

Interessant war der Umstand, dass auch die „Fachleute“ in irgendeiner Form betroffen waren und nicht darum umhin kamen, sich selber in Beziehung zum Thema zu setzen. Jeder der Anwesenden hatte auf irgendeine Art und Weise mit den Kriegen im letzten Jahrhundert zu tun. (So wie jeder Mitteleuropäer!) Diese Erkenntnis ist zwar prinzipiell nicht neu, die Bedeutung dieses Umstandes kommt aber erst in den letzten Jahren zum Vorschein und wurde auf der Tagung von allen Seiten betrachtet. Was für Erlebnisse oder Familiengeschichten tragen wir da mit uns herum – und vor allem, was machen sie mit uns?

Die Kriegskinder (geboren zwischen 1935-1945) sind heute Rentner und nicht selten erreichen sie die inneren Bilder, Erlebnisse und oft auch Schrecken ihrer Kindheit wieder. Zeit für Aufarbeitung gab es in den Jahren der Familiengründung und Berufstätigkeit nicht. Das Leben wurde gelebt, so gut es ging. Nicht selten wurden neue „heile Welten“ geschaffen, und (Über-)Lebensstrategien und -strukturen entwickelt, die auf den Trümmern der eigenen Kindheit aufgebaut waren und doch alles vergessen machen sollten – schließlich sollten es die Nachkommen besser haben.

Aber die Kriegsenkel, die Kinder der Kriegskinder (geboren zwischen 1960-1970), merken heute, dass sie eine nicht greifbare Last mit sich herumschleppen. Sie sind diejenigen, die in Therapien darauf stoßen, was das Kriegsgeschehen ihnen und ihren Familien unbewusst aufgebürdet hat. Sie werden mit der Frage konfrontiert, woher ihre „Heimatlosigkeit“ stammt, ihr gutes Organisationstalent (nichts vergessen, immer alles dabei haben!), ihr Gefühl fremd oder anders zu sein, ihre Unruhe, ihre Suche nach Lebensort, nach Berufstätigkeit (Berufung?), ihre Frage nach Bindungsfähigkeit und eigener Identität…

Kriegsenkel sein ist ein Schicksal. Ist ein Erbstrom, in den man sich hineinbegeben hat, ein Nadelöhr, durch das das eigene Leben einen Weg finden kann, ist eine Bürde, die getragen und liebevoll anerkannt und transformiert werden will. Zum Kriegsenkel sein kann man sich nicht entschließen, es geht nicht um eine Willensintention, sondern es handelt sich um einen vorgeburtlichen Entschluss, dieses Thema mit in das eigene Lebensboot zu nehmen. Was die Tagung sichtbar gemacht hat, ist das Netzwerk, das Schicksalsnetzwerk von Kriegsenkeln – die sich nun in Göttingen getroffen haben.

Eine Fähigkeit, die diese Schicksalsträger mitbringen, ist die Möglichkeit der Vernetzung (was via Internet schon begonnen hat, z.B. www.forumkriegsenkel.de) und eine Ideologiefreiheit, die es möglich macht, über die Kategorien von Tätern und Opfern, Feinden und Freunden, Richtig und Falsch, Gut und Böse hinaus zu gehen, um die Schätze der Vergangenheit in selbstgewählte Freiheiten der Zukunft zu verwandeln.

Bis diese Arbeit individuell und gesellschaftlich geleistet sein wird, bedarf es vieler Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Allein, zu zweit, in Gruppen, auf Kongressen und in der Literatur. Unsere Gesellschaft ist um ein schlummerndes Thema bereichert worden, das langsam aus seiner Versenkung erwacht und Orte und Handlungsträger in individueller Ausprägung und Fragestellung zusammenführt. Wer hat zu dem Thema etwas beizutragen?

Freitag, 6. April 2012

Berlin. Sitzen, staunen und flanieren

Ich bin in Berlin. Und sitze am Schreibtisch. Hinter mir höre ich gedämpft Stimmen in der Wohnung, Kinder spielen. Ich will schreiben. Die Tür hinter mir ist geschlossen. Neben mir steht eine Tasse Espresso. Vor mir ist das Fenster. Ein hohes Fenster. So wie das in Berliner Altbauwohnungen oft der Fall ist. Es ist kalt, grau und nass draußen. An den weit verzweigten Ästen des Baumes hängen Regentropfen. Sie glitzern fast wie Weihnachtssterne. Manchmal fällt einer herunter.

Hie und da fährt ein Auto vorüber. Die Kombination von Kopfsteinpflaster und Autoreifen lässt ein spezifisches Geräusch entstehen. Wohin die Menschen wohl fahren? Die feuchte Luft vertreibt die Menschen vom Außen- in den Innenraum. An der gegenüberliegenden Fensterfront sehe ich erleuchtete Fenster. Was geschieht dahinter? Genau auf meiner Höhe sehe ich schemenhaft eine Frau an einem Tisch sitzen. So wie ich.

Ich bin in Berlin. Und gehe zu Gerhard Richter. Es ist kalt. Ich stelle mich in die lange Schlange der kunstbeflissenen Menschen, die alle in die Ausstellung wollen. Die Warteschlange windet sich um das Gebäude. Dann endlich ist es soweit. Es ist noch früh am Morgen. Erwartungsvolle Stille liegt in der Luft. Die Bilder von Richter. Groß. Heftig. Wie kann man nur so unterschiedlich malen?

Ich schlendere an den Gemälden und Installationen vorbei, um einen Überblick zu bekommen. Die Bilder sprechen eine deutliche Sprache. Still und eindringlich. Zum einen rufen sie Zeitgeschichte auf. Zum anderen gehen sie weit darüber hinaus. Momente. Ganz besondere Momente werden präsentiert. Es zieht mich immer wieder zu einem Bild. Abstrakte Malerei. Mit einer unglaublichen Tiefe. Die Welt ist schön.

Ich bin in Berlin. Und fahre mit dem Fahrrad durch Kreuzberg. Die Sonne scheint und es ist viel los. Auf den Straßen. Überall Menschen, Autos, Busse. Die Lebensader pulsiert. Jedes Schaufenster lädt dazu ein, angeblickt zu werden. In Kreuzberg gibt es keine Hamburger, sondern Kreuzburger. Falafel aus tausendundeiner Nacht. Süße Verbote. Es ist fast wie auf einem Basar. Hier leben die Menschen auf den Straßen. Ich schiebe mein Fahrrad und lasse mich treiben.

Ich höre verschiedene Sprachen. Die Welt scheint hier vertreten zu sein. Ich staune. Fühle mich aufgenommen. Im Strom der Zeit, im Raum des Lebens. Jeder darf hier sein. Und nicht nur hier sein. Sondern sein. Das Miteinander ist kreativ. Dunkle Abgründe glänzen heute in der Frühlingssonne. An der Oberfläche geht es. Damit gehe ich weiter. Beobachte Menschen. Lasse mich auf das Durcheinander ein.

Ich bin in Berlin. Es wird immer stiller. Wir gehen auf Karfreitag zu. Die ganze Stadt ist voller Osterhasen und bunter Ostereier. Die Blumenläden quellen über: Narzissen und Tulpen aus Holland. Meine Seele sperrt sich dagegen. Ich fühle mich eher an wie ein Regentropfen, der an einem Ast hängt und die Welt von oben betrachtet. Es wird einen Moment geben, in dem dieser Tropfen sich dazu entschließt, seinen Platz zu verlassen und mitzumachen – aber noch ist er nicht gekommen…

Dafür müssen wir erst den inneren Abgrund durchschreiten: sitzend, staunend und flanierend. Möge es danach Ostern werden.

Sonntag, 1. April 2012

Bewegungen im Schicksalsnetz. Wenn Positionen gewechselt werden

Jeden Menschen umgibt ein Netzwerk, ein Schicksalsnetzwerk. Jeder von uns trägt andere Menschen mit sich (und wird von ihnen getragen). Die Art der Beziehung ist unterschiedlich – so wie auch das persönliche Schicksal individuell ist. Ich habe mein Netzwerk und du hast dein Netzwerk – ein jeder von uns ist von Schicksalen umgeben und durchdrungen, die ihm oder ihr mehr oder weniger nah sind und eine Auswirkung auf das persönliche Leben haben.

In meinem Schicksalsnetzwerk hat es einen Ruck gegeben, eine plötzliche Veränderung. Ein lebender Freund hat sich in einen verstorbenen Gefährten transformiert. Er gehört weiterhin in mein Netzwerk, befindet sich aber nun unwiderruflich in einer anderen „Abteilung“. Er gehört nun zu meinen „Verstorbenen“, meinem Sternenhimmel und nicht mehr zu denjenigen, die ich mal schnell behelligen kann. In meiner irdischen Begrenzung stehe ich nun ohne ihn da.

Ein irdisches Schicksalsnetzwerk hat etwas Statisches und Beständiges sowie etwas Dynamisches und Dramatisches zugleich. Wenn ich es beschreiben sollte, so brauche ich die Höhe und die Tiefe, die Weite und die Nähe, Länge und Kürze, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Geistiges, Seelisches und Physisches, das Horizontale und das Vertikale, Licht und Dunkel, Leichtigkeit und Schwere, Zeit und Raum und viele, viele Farben.

Meistens sind es sanfte Bewegungen, die sich in diesem Netz vollziehen – manchmal aber auch ruckartige. Ich lerne einen Menschen kennen, wir befreunden uns, arbeiten miteinander oder haben auf irgendeine Weise miteinander zu tun und dieser Mensch erobert sich dann einen Platz in meinem Netzwerk. Auch mein Zutun spielt dabei eine Rolle. Alle meine Beziehungen haben einen Ort in meinem Netz, so wie ich einen Ort im Netz von meinen Mitmenschen habe.

Möglicherweise bewegt sich ein neuer Schicksalsgefährte langsam von der Peripherie in den Mittelpunkt meines Netzwerkes. Manche Verbindungen bleiben aber auch tangential, peripher. Manche befinden sich lange im Außenraum und bewegen sich nach innen, oder sie sind im Innenraum und bewegen sich auswärts. Bei manchen wechseln Intensität, Bedeutung und zeitliche Dauer.

Da wäre zum einen die Sphäre der Verwandtschaft und Familie zu nennen. Die Verbindungen sind gegeben und nicht frei wählbar. Wie diese Gegebenheiten allerdings gelebt, erlebt und belebt werden, ist in unsere Freiheit gestellt. Wir sitzen gemeinsam im Boot des Erb- oder Familienstroms, der Herkunft und Zusammengehörigkeit – ob wir wollen oder nicht. Wenn ich mich umschaue, so sehe ich sehr unterschiedliche Familien- und Verwandtschaftsstrukturen.

Und da ist zum anderen die Sphäre der Freundschaft und Feindschaft. Ihre Provenienz ist Sympathie und Antipathie, Vertrauen und Misstrauen, Nähe und Distanz, Freude und Leid. In dieser Sphäre spielt das Bedürfnis nach Nähe und Austausch die Hauptrolle, sie dirigiert, lässt Innenräume entstehen, delikate Themen in vertrauensvoller Weise sichtbar werden und beschäftigt uns manchmal Tag und Nacht. Auch in dieser Sphäre können Wunden geschlagen und unermessliche Abgründe geöffnet werden.

Einen anderen Geschmack hat die Sphäre der Arbeitsbeziehungen und Kollegenschaft, sie bewegt sich im Bereich des Tagesgeschäfts. Hier sind die Fähigkeiten des täglichen Lebens gefragt, es werden gesellschaftliche, kulturelle oder wirtschaftliche Taten gedacht und vollbracht, die über den eigenen Horizont hinausgehen. Es handelt sich um das Netz, das auf gesellschaftspolitischer Ebene über der Erde und um die Erde herum geknüpft wird.

Ja und dann gibt es noch die Sphäre der Ideen, Lehrer und der geistigen Ausrichtung. Sie hat ihre Quelle im Himmel, sie kommt von oben und muss das Nadelöhr finden, durch das sie den Einzelnen erreichen kann. Wenn diese Sphäre aber zum Netz dazu gehört, dann beherbergt es einen geistigen Schatz, der sich über Zeit und Raum des Einzelnen hinaus bewegt. Hier spielt die innere Ausrichtung, Religion, Geistesströmung oder Selbstverständnis des eigenen Lebens eine Rolle.

Und das gilt auch für die Sphäre der Ungeborenen und Verstorbenen, die uns umgibt - sie sind immer da und doch noch unterwegs oder schon gegangen. Auch sie können Raum und Zeit überwinden und melden sich, wenn wir aufmerksam sind, hie und da dezent zu Wort. Gerne zeigen sie sich in Träumen, Ahnungen, Eingebungen oder plötzlichen Stimmungen.

Ich habe einen irdischen Freund verloren und einen verstorbenen Gefährten gewonnen – daran muss ich mich erst gewöhnen. Mal sehen, ob ich die Offenheit habe zu beobachten, wie sich diese Verschiebung in meinem Leben auswirken wird. Mein Schicksalsnetzwerk bleibt zwar in seinem Ausmaß beständig, in seiner Feinstofflichkeit bewegt es sich aber. Manchmal finde ich das nicht so einfach.