Mittwoch, 21. März 2012

Zum Tod von Wolfgang Garvelmann. Kirsche und Olive

19.10.1924 - 11.03.2012

Auf wundersame Weise standen ein alter, knorriger Olivenbaum und ein junger, schlanker Kirschbaum tief verwurzelt in einem Garten. Sie beäugten sich skeptisch, von Zeit zu Zeit. Lange kannten sie sich nicht und würdigten sich kaum eines Blickes. Während der eine seine Heimat in Klein Asien hat, wächst und gedeiht der andere gerne im warmen Nahen Osten. Wie die beiden in diesen Garten in Europa kamen ist ungewiss, dass sie dort aber zusammen standen und miteinander gerungen haben ist gewiss.

Wolfgang, es ist vollbracht. Dein irdisches Leben hat sich gerundet, dein geistiges hat begonnen. Du hast den irdischen Plan verlassen, bist gegangen, still und leise und mit so viel Demut und Zeit, dass dich deine irdische Familie begleiten durfte. Noch einmal hast du sie versammelt – alle standen um dein Bett. Deine Freunde und Gefährten auf geistiger Ebene haben innerlich Anteil genommen, bevor der Moment des Übergangs kam. Sigrid war bei dir und sah die äußere Verwandlung vom alten Olivenbaum in die aufblühende Kirsche.

Es war nicht immer leicht für dich. In jungen Jahren schon hast du dich mit der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners auseinander gesetzt und darin deine Heimat gefunden, die Worte des Doktors waren dein Rucksack. Nicht alles ist so gekommen, wie du es dir gewünscht hast. Irdisches und Geistiges haben sich nicht immer vermählt. Von Zeit zu Zeit gab es in deinem langen Leben Klippen zu bezwingen. Du kanntest die finsteren Gesellen, Doppelgänger, Gespenster und Bösewichte. Gerungen hast du und dich bemüht, um dem Hellen und Lichten Raum zu geben. Du wolltest es gut machen.

Der emporstrebende Kirschbaum, hoffnungsvoll wie ein junger Fürst, trägt einen jugendlichen Stolz in sich. Er strebt empor zum Licht, wächst gerade und schlank gen Himmel, den Idealen zugewandt. Was er hervorbringen will sind süße und saftige Früchte. Reinheit und Stolz verbinden sich zu Schönheit und Weisheit. Die Welt glänzt und im Garten Eden lässt es sich gut leben. Die Früchte, die der Baum hervorbringt sind rund und süß – und im Alltag verboten.

Dein Leben hast du der Anthroposophie geweiht und alles danach ausgerichtet. Als Arzt hast du dich den Kindern zugewendet, die besonderer Aufmerksamkeit bedurften. Stets waren dir die Worte des Doktors zur Hand – ein bemerkenswerter Zustand, immer zu wissen, wo du Hilfe erwarten konntest. Du hattest in deinem Leben viele Menschen um dich. In den letzten Jahren bist du, was das gesprochene Wort betrifft, stiller geworden. Dem geschriebenen und vorbereiteten aber bist du treu und verbunden geblieben. Briefe, Emails, Bücher, Vorträge – noch vor wenigen Tagen hast du mich über die technischen Errungenschaften der jungen Generation, über „Skype“ angerufen und gefragt, was es Neues gibt.

Der alte Olivenbaum neigt sich mit seinen knorrigen Ästen zur Erde und trägt seine Last. Er weiß, dass er Schätze beherbergt, aber er weiß auch, dass sie erst transformiert werden müssen. Roh schmecken die Oliven den Menschen nicht. Der Stamm wird dicker und knolliger, sein Holz ist fest und von Maserungen durchzogen. Wissend und demütig erträgt er gebeugt sein langes Schicksal, darauf hoffend, dass nicht alles vergebens sei.

Wolfgang, Du warst ein streitbarer Mann der alten Schule, überzeugt davon, das Beste zu tun, alter Olivenbaum und junge Kirsche zugleich. Beide Bäume bringen Früchte hervor, die einen Stein in sich tragen – um neues Leben zu ermöglichen. Du hinterlässt Spuren auf der Erde, in Herzen von Menschen. Tapfer hast du dein Leben bezwungen. Mögest du im Geistigen finden, was du im Irdischen gesucht hast – ich wünsche es dir und danke dir für deine so wohlwollende und zukunftsweisende Freundschaft.

Freitag, 16. März 2012

Kriegsenkel sein (V). Krieg in Friedenszeiten

Auszug aus einem Interview:
Welche Bedeutung hatte der Krieg in deiner Jugend? Welche Vorstellungen hattest du dabei? Inwieweit hatte der Krieg auch mit dir zu tun?

Ich glaube, dass ich es heute so beschreiben würde: Als Kind fühlt sich sowohl die Gegenwart SEHR groß an, als auch der unmittelbare Lebenszusammenhang. Eine Vorstellung davon, dass es prinzipiell anders sein könnte, entsteht erst mit der Zeit. Zukunft und Vergangenheit haben deutlich weniger Raum als alles das, was gegenwärtig ist und es dauert eine ganze Weile, bis die Vorstellung dieser beiden Zeitdimensionen irgendwie miteinander verschmilzt und handhabbar wird. Natürlich „wusste“ ich schon als kleines Kind irgendwie, dass es einen Krieg gab und dass „früher alles anders“ war.

Vielleicht ist es so, dass es diesen Film schon länger im Familienrepertoire gab, dass ich als Kind aber nur kleine Ausschnitte kannte, die sich dann mit zunehmendem Alter immer mehr miteinander verbunden haben. Lange war ich dabei ein Zuschauer. Dass ich beteiligt bin und diese Beteiligung auch spüre und lebe, dass „die ganze Sache“ also kein Film ist, den ich mir anschaue und dann wieder abschalte, ist mir erst als Erwachsene klar geworden. Meine Gegenwart hat sich aus der Vergangenheit, aus dem Drama des Jahrhunderts konstituiert und gehört damit, irgendwie, zu mir.

Das Bewusstsein darüber, dass der Krieg also nicht nur eine Erzählung ist, sondern das Fundament meines Lebens ist, ist mir erst relativ spät gekommen. Der Zweite Weltkrieg war in meiner Kindheit eine Erzählung, keine schöne, aber mehr auch nicht. Viel aktueller und bedrohlicher war der Vietnamkrieg, der auch bei mir zu Hause heftig diskutiert wurde. Ich erinnere mich an Fernsehbilder aus den Nachrichten, die ich sehr beängstigend fand.

Wenn ich heute zurückblicke, dann kann ich das Trümmerfeld, das der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat, sehen. Auch mein Leben wurde darauf aufgebaut. Nicht nur, dass das Haus in dem ich lebte, auf einem Trümmerfeld aufgebaut wurde, sondern vor allem das seelische Trümmerfeld, in dem „die Erwachsenen“ gefangen waren. Es gab bei uns zu Hause keine Gewalt, keinerlei „physische Züchtigung“, aber es gab das seelische Schlachtfeld, auf dem wir uns alle bewegten.

Krieg gab es „nur“ im Wort. Man nennt es auch „Diskussionen“, „Debatten“, „Kontroversen“ oder „Wortgefechte“. Mir selber war lange nicht klar, wann und wo ich mich auf sicherem Terrain befinde, wo Gefahr droht und wann ein „Kampf“ unausweichlich ist. Der physische Krieg war längst zu Ende, im seelischen steckten wir alle mittendrin und übten uns in der Erweiterung unseres Vokabulars.

Samstag, 10. März 2012

Kriegsenkel sein (IV). Heilende Wunden

“Those who cannot remember the past are condemned to repeat it” (George Santayana)

Das ist schon bekannt: Gegensätze sind Gegensätze. Und, sie bedingen sich gegenseitig, gehören zueinander. Auf der vertikalen Ebene gibt es zwischen Himmel und Abgrund die Ränder der Schlucht, sie machen die horizontale Ebene aus. Auf der einen Seite gibt es Bewusstsein und auf der anderen Seite die Unbewusstheit. Dazwischen ist ein Abgrund, der sich sowohl in die Tiefe und Höhe als auch in die Weite erstreckt. Wenn sich die gegensätzlichen Polaritäten näher kommen, entsteht eine dritte Dimension.

Eigentlich müsste es einen neuen Begriff geben: wenn sich Bewusstsein und Unbewusstheit näher kommen, wenn sie auseinander hervorgehen, wenn sie nicht mehr voneinander getrennt sind, gegen einander kämpfen, sondern miteinander tanzen, ineinander aufgehen, wie nennt man ihre Verschmelzung dann?

Wenn das Unbewusste ins Bewusstsein dringt, ist das oft schmerzvoll. Besonders dann, wenn es um delikate Dinge geht. Der Schutz der dunklen Ummantelung geht verloren, das Träumerische verliert die vage Ahnung. Festpunkte können ins Wanken geraten, das eigene Selbstverständnis bröckelt, kurz, es muss neu navigiert werden, der gewohnte Weg trägt nicht mehr.

Das „Schöne“ oder „Interessante“ an einer transgenerationalen Weitergabe von traumatischen Kriegserlebnissen ist es, dass sich etwas bemerkbar macht, was erst einmal gar keine Evidenz aufweist, sondern aus der Tiefe der Unbewusstheit aufsteigt. Was habe ich schon mit dem Krieg zu tun? Mit traumatischen Erlebnissen? Mit einer ungelebten Kindheit, mit einer Desillusionierung im Erwachsenenalter? Mit all den eingegrabenen Erlebnissen, den Ängsten und Schrecken sowie den darauf folgenden Mustern, Haltungen oder Urteilen?

Jede Generation wird in ihrem Schicksalsnetzwerk in „ihre“ Welt hineingeboren. Das gesellschaftliche Leben hat sich von der Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts, der Mitte des 20. Jahrhunderts und dem Ende sehr verwandelt… Offensichtlich ist es aber so, dass die aufeinander folgenden Generationen durch ihre karmische Verknüpfung intensiv miteinander verbunden sind.

Sozialisation hin oder her, es gibt ein geistiges Band, das den Erbstrom auseinander hervorgehen lässt. Im Fall der Generationen: „Krieg, Flucht und Vertreibung“ (Großeltern – ausgeliefert an politische Ereignisse der Großmächte), „Kindheit in Trümmern“ (Eltern - Kriegskinder) und „Leben in einer Wohlstandsgesellschaft“ (meine Generation – Kriegsenkel), entsteht eine ganz besondere Nähe. Es wird eine Wunde, ein Loch, eine Verunsicherung und eine Leere weitergetragen, die nach Transformation, nach Heilung ruft.

Ich könnte mich fragen, was ich mit der tragischen Lebensbilanz meiner Großeltern zu tun habe oder der speziellen Haltung meiner Eltern dem Leben gegenüber – und kann es nur so verstehen, dass diese Verbindung karmisch „gesucht“ wurde. Dass das Leben mich dazu eingeladen hat, mich damit zu beschäftigen. Bewusstsein in Schlummerndes und Schlafendes zu bringen und aus dieser Vergangenheit eine neue, kraftvolle und gute Zukunft hervorgehen zu lassen, die keine toten Kühe hinter sich herschleppt.

Mein Leben lädt mich dazu ein, meine eigenen Wunden wahrzunehmen, Schmerzen und Sehnsüchte zuzulassen und mich (irgendwann) von der unbewussten Kraft der Schrecken so zu verabschieden, dass etwas Neues entstehen kann und ich in meinem eigenen Leben ankomme. Das heißt, dass ich mich von der unbewussten Haltung verabschiede, dass meine Überlebenskraft an die Vergangenheit gebunden sei, sondern sie so zu integrieren, dass sie für eine Zukunft frei wird, die sich auszusprechen beginnt, wenn ich den Mut habe, meine Verlorenheit anzunehmen.

Die Wunde meiner Vorfahren ist auch in mir zu finden. Und auf irgendeine Art wird sie dort auch bleiben. Das wirkt sich in meinem privaten Leben aus, aber auch in meinem „öffentlichen“. Sie fragt um eine liebevolle Integration in mein Leben. Aber sie ist es auch, die mir einen Platz in der Gesellschaft gibt, sie ruft mir zu, mich (mit der Geschichte meiner Vorfahren) einzubringen. Mich als Zeitgenossin zu empfinden, mitzureden, mitzumachen. Sie geleitet mich auf dem Weg, vom Zuschauer zum Mitspieler zu avancieren – und nicht unbewusst etwas zu wiederholen, was einer freien Zukunft nicht dienlich wäre.

Samstag, 3. März 2012

Kriegsenkel sein (III). Antwort auf eine Frage

Auszug aus einem Interview:
Wie findet die Übertragung der Problematik der ersten Generation auf die zweite Generation statt?

Tja, das weiß ich nicht so genau… irgendwie scheinen sich da geheimnisvolle Prozesse abzuspielen. Ich selber bin ja darauf aufmerksam geworden, weil ich in meinem Leben auf „Verhaltensweisen“ oder „Gegebenheiten“ gestoßen bin, die irgendwie „schräg“ in mir liegen. Zu denen ich kein evidentes Verhältnis habe. Nicht verstehe, woher sie kommen, warum sie da sind, inwiefern sie zu mir gehören.

Und das ist natürlich ein delikates Thema. Es gibt eine Ebene auf der wir diese Art von Fragen natürlich nie beantworten können. (Weiß ich wer ich bin, warum ich so bin wie ich bin und wohin das alles führt?) Aber es gibt ein Gefühl, das ich für mich haben kann. Es ist wie ein Bild, das ich gleichzeitig sehe UND fühle. Und da gibt es Gegebenheiten, zu denen ich ein (wie auch immer geartetes) Verhältnis habe, aber auch „Dinge“, die irgendwie nicht schlüssig sind.

Vielleicht ein paar Beispiele: Ich werde oft gefragt, woher ich komme – auf Grund meines Aussehens und meiner Sprache. Und die Vermutungen reichen von Holland über England und Skandinavien sowie das Baltikum bis weit in den Osten nach Russland. Was geht von mir aus, dass mir diese Fragen gestellt werden? Ich habe immer in Deutschland gelebt, spreche wirklich gut Deutsch (!) und fühle mich auch sonst ziemlich deutsch… Das Verhältnis zu den Orten an denen ich gelebt habe und lebe ist allerdings aufschlussreich, denn da erlebe ich eine Beliebigkeit. Ich „komme“ zwar aus dem Ruhrgebiet, kann aber nicht sagen, dass das meine „Heimat“ wäre.

Mit den Begriffen „Heimat“ oder „Familientradition“ kann ich kaum ein Erleben verbinden sondern eher Sehnsüchte oder Wünsche. Es gibt eine starke Kraft in mir Beziehungen und Freundschaften zu pflegen und mich in diesem Netz zu bewegen. Das spielt sich aber auf der seelischen Ebene ab und nicht auf der irdischen. Es gibt eine leise Stimme in mir, die mir immer wieder zuraunt, dass das einzige, woran es sich halten lässt das Schicksalsnetzwerk ist, Verbindungen und Beziehungen sind wichtig – Besitz, traditionelle Werte oder Verankerungen spielen keine Rolle (bzw. dürfen besser keine Rolle spielen).

Durch den Blick auf die Kindheit meiner Kinder, an deren Gestaltung ich ja maßgeblich beteiligt war, stelle ich fest, welche meiner eigenen Sehnsüchte und Wünsche ich für sie verwirklichen konnte und wo die Grenzen dabei sind, welche Themen ich offenbar unbewusst übernommen und an sie weitergegeben habe. Warum habe ich nicht für eine „Heimat“ gesorgt? Warum gebe ich weiter, dass das Leben ein Kampf ist, den es durchzuhalten gilt…

Meine Eltern wurden durch ihre Kindheit geprägt, durch ihre Familienstrukturen und das Nachkriegsdeutschland mit dem politischen Aufwind in den 60er Jahren. Alle Gegebenheiten und Erlebnisse die nicht verarbeitet wurden, werden unbewusst transgenerational weitergegeben. Heute wird einem Kind eine Therapie zuteil, wenn es den Brand eines Hauses mitbekommen hat. Das war im Nachkriegsdeutschland nicht üblich (aber sicherlich notwendig!). Die Generation meiner Eltern hätte genügend Gründe gehabt, therapeutisch begleitet zu werden, um das aufzuarbeiten, was sie erlebt und erlitten hat.

Obwohl meine eigene Kindheit äußerlich so ganz anders verlief als die meiner Eltern, gibt es innerlich Parallelen. Darin zeigt sich die unbewusste Weitergabe. Das gleiche Phänomen sehe ich, in abgeschwächter Form auch für meine Kinder. Darum wird es Zeit, die Traumata des Krieges aufzuarbeiten. Wir wurden vom Schicksal wie ausgespuckt – irgendwo, irgendwie… Nun gilt es die Wunden wahrzunehmen, anzuschauen und möglichst auch zu heilen.

(Fortsetzung folgt)