Freitag, 24. Februar 2012

Kriegsenkel sein (II). Fragen an meine Großmutter

Als du so alt warst, wie ich es jetzt bin, lag der Zweite Weltkrieg gerade hinter euch. Die sechs bangen Jahre, die Europa umkrempelten und schließlich dazu führten, dass ihr alles verloren habt. Du hattest zwei kleine Söhne und warst, zusammen mit ihnen, in einem kleinen Zimmer bei Verwandten untergebracht. Die Flucht hatte euch gerade über die deutsche Grenze geführt. Dort wähntet ihr euch in Sicherheit – vor den Tschechen. Innerer Stolz und materieller Besitz waren verloren gegangen. Demütig hast du deinen „Gewinn“ beschützt: dein eigenes Leben und das Leben deiner beiden Söhne. Euer Leben konntet ihr retten. Mehr nicht.

Ab 1946 lebte der Bergbau in der Stadt Aue in Sachsen neu auf. Das war nicht weit weg von euch. Für die sowjetische Siegermacht wurde dort Uranerz gewonnen. Dein Mann – mein Großvater – begann in diesem Erzbergwerk zu arbeiten. Und er starb wenig später. Vermutlich an den Folgen von radioaktiver Strahlung. Als du so alt warst wie ich es jetzt bin, hattest du alles das, was vorher dein Leben ausmachte, verloren. Du warst Witwe, hattest zwei kleine Söhne und musstest nach vorne schauen.

Einfach nach vorne schauen. Du warst es nicht gewöhnt gewesen zu arbeiten. Nein, du bist morgens eigentlich immer erst einmal ausgeritten, bevor der Tag begann. Oder du spieltest ein Tennismatch mit deinem Mann, bevor er als Direktor ins Elektrizitätswerk ging und sich vergewisserte, dass alles glatt lief. Du hattest Dienstboten und führtest ein angenehmes Leben. Jetzt war alles anders. Ihr musstet von deiner Hände Arbeit leben. Von Kartoffeln. Und manchmal vielleicht auch von Kartoffelschalen.

Irgendwie hast du dich und die zwei Jungs durchgebracht. Sie sind in die Schule gegangen, während sich die DDR konstituierte. Über diese vierzehn Jahre im Osten Deutschlands weiß ich wenig. Was ich aber weiß ist, dass ihr noch einmal geflohen seid. 1958. In den Westen. Über die grüne Grenze. Es war nicht deine Initiative. Aber du hast mitgemacht. Und es ist gelungen. Und wieder: ein Neuanfang. Dieses Mal im Westen.

Du bekamst im Auffanglager ein Brotmesser geschenkt. Daran erinnere ich mich. Ich war zwar nicht dabei, aber als ich später als Kind immer wieder bei dir war, fiel dieses Messer irgendwie auf. Es war alt und wurde gut gehütet. Du hast mir einmal erzählt, woher dieses Messer kam. Du knüpftest daran Hoffnungen. Hoffnungen auf ein besseres Leben. Deine Söhne sollten es gut haben, besser haben als du. Sie sollten etwas werden.

In deinem Wohnzimmer hingen zwei Fotos. Eins von deinem Mann – den ich nie kennen gelernt habe – und eins von deinen beiden Söhnen, noch aus der Heimat. Über „der Heimat“ (vor den Kriegen) lag ein Schleier. Du sprachst nur ganz vage und kaum darüber und es dauerte lange, bis ich mir ein Bild davon machen konnte, was ihr durchgemacht hattet, woher ihr kamt und wie es sein musste, nun hier, irgendwie so, zu leben.

Heute, nachdem ich dafür gekämpft habe, dass euer Grab nicht aufgelöst, sondern weiter erhalten bleibt, habe ich viele Fragen an dich. Denn auch wenn deine Geschichte für mich, bis auf ein paar Informationen, im Dunkeln liegt, habe ich das Gefühl, dass ich damit etwas zu tun habe.

Wie groß müssen deine Angst und dein Schmerz in diesen Jahren gewesen sein? Wie sehr hast du gehofft und gebangt, dass ihr „mit mehr als dem Leben“ davon kommt – auch wenn kaum etwas davon übrig blieb? Welch ein Schlag muss es für dich gewesen sein, als, nach Beendigung des Krieges, dein Mann starb? Wie schwer muss das Schweigen in all den folgenden Jahren in deinem Herzen gewogen haben? Wie hast du innerlich zu den Begriffen „Opfer“ und „Täter“ gestanden? Was bedeutete die „Deutsche Schuld“ für dich? Wolltest du deinem Leben einmal ein Ende setzen? Hast du etwas „Schlimmes“ erlebt, bist du vergewaltigt oder bedroht worden? Und letztendlich, was hat dir die Kraft gegeben weiter zu machen?

Du warst eine wunderbare Großmutter für mich. Du hast mir alle Wünsche erfüllt, die du mir erfüllen konntest. All deine Aufmerksamkeit war auf uns gerichtet, meinen Bruder und mich. Du hast unser Lieblingsessen gekocht, bist mit uns in den Zoo und später ins Kino gegangen. Du warst in meiner Jugend ein Festpunkt – denn in meinem Leben wurden die Kriegsjahre auf einer anderen Ebene wiederholt.

Wie schaust du auf dein Leben zurück? Vor 110 Jahren wurdest du geboren… Ein ganzes Jahrhundert ist seitdem vergangen. Schade, dass du uns in dieser Hinsicht so wenig „Geschichte“ hinterlassen hast, dass ich so wenig von dir weiß. Aber ich verstehe gut, dass du diese Schutzmaßnahme des Schweigens brauchtest. Heute bin ich dabei das zu verarbeiten, was euch widerfahren ist, denn die seelischen Abgründe, durch die ihr wandern musstet, werden weitergegeben, wenn wir kein Licht darauf werfen.

Ich grüße dich!

(Fortsetzung folgt)

Freitag, 17. Februar 2012

Kriegsenkel sein (I). Ein unscheinbares Erbe zeigt sich

Zehn Frauen, im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren und äußerlich sehr unterschiedlich auftretend, setzen sich an einem Samstagnachmittag in einen Kreis. Sie kennen sich nicht. Noch nicht. Was sie vereint ist zum einen die Tatsache, dass ihre Eltern im Zweiten Weltkrieg Kinder waren und zum anderen die Vermutung, dass traumatische Erlebnisse der Eltern unbewusst an sie weitergegeben wurden. Man nennt das: Transgenerationale Weitergabe von belastenden Erfahrungen und Traumata.

Viele der Eltern sind außerdem Flüchtlingskinder, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten und „irgendwo“ und „irgendwie“ neu angefangen haben. Interessant ist dieser Aspekt aus dem Grund, weil die Frauen das Gefühl haben, mit der Geschichte ihrer Eltern etwas zu tun zu haben – obwohl sie es doch so anders, so viel besser hatten. Die Frauen sind gekommen, um herauszufinden, was ihre eigenen Lebensthemen und vor allem ihre Schwierigkeiten und Probleme mit den kindlichen Erlebnissen der Eltern zu tun haben.

In einer Runde stellen die Frauen sich einander vor. Sie geben einen kurzen Abriss ihres Lebens, der Situation der Eltern im Krieg und benennen die Themen, die ihr Leben prägen. Schon nach wenigen Minuten laufen die ersten Tränen. Es ist, als ob die steinige Brachlandschaft im Innern der Einzelnen von ihrer Trockenheit und Staubigkeit befreit würde, die brüchigen Formationen brechen auf, alles gerät in Bewegung: die einzelnen Bruchsteine zeigen sich von einer neuen Seite und bieten sich an.

Die äußerliche Fassung weicht der inneren Auflösung. Es scheint, als ob ein sanfter schwarzer Nebel über den Dingen des Alltags liegt, der bleischwer im Lebensrucksack wiegt und an den sich jede schon vor so langer Zeit gewöhnt hat... Jede der Frauen ist ganz bei sich, erzählt mit wenigen Worten etwas über sich und doch entsteht in der Mitte des Kreises ein Pool aus Geschichten, in dem die verschiedenen Nuancen des Themas miteinander Kontakt aufnehmen.

Fragen, Aussagen und Hoffnungen treffen aufeinander:
Wer bin ICH? Woher komme ich? Wohin gehe ich? – Das EIGENE Leben leben… Vom Überleben zum Leben. Durchhalten – weitermachen. Was gibt mir echte Kraft? Versagen – wenig Selbstvertrauen; Stärkung! – aber wie? Wo bin ich zu Hause? Heimat, Heimatlosigkeit, Orte des Durchgangs, der Verwurzelung… Gefühle – wie Schwächen zeigen, Ängste zulassen, Unsicherheit annehmen? Bindungsstörungen. Schuldgefühle und Ängste.

Wie erreiche ich meine Eltern, die Kriegskinder, und kann ihnen etwas von mir, der Kriegsenkelin erzählen? Welche Themen oder Gefühle habe ich übernommen? Wie spiegelt sich die Familiengeschichte in meinem Leben? Integration der Familiengeschichte. Frieden mit den Eltern und deren Geschichte finden…

Flüchtlingsmentalität. Wie wurde in der Familie mit den Erlebnissen aus Krieg und Nachkriegszeit umgegangen? Was sind Familienthemen, -geheimnisse und -aufträge. Nachforschungen zu Personen, Orten oder Genealogie (Wurzeln suchen). Austausch, Tipps. Parentifizierung - Umkehr: Tochter–Mutter–Beziehung.

Drei Themenkreise werden sichtbar:
Der Blick auf die Gegenwart, auf uns selbst – was trage ich mit mir herum, womit ringe ich, was spielt unterschwellig eine Rolle, warum habe ich diese Thematik gesucht?

Der Blick auf die Vergangenheit, auf Eltern, Vater oder Mutter – was ist ihnen wirklich passiert, wie leben sie damit, womit ringen sie, was muss bearbeitet werden?

Der Blick auf die Zukunft, unsere Wünsche - wie können wir, die Kriegsenkel darüber in eine OFFENES Gespräch mit unseren Eltern, den Kriegskindern kommen, wie lässt es sich mit Traumata so leben, dass sie nicht unbewusst weitergegeben werden?

Nach drei Stunden Begegnung hat sich eine Schale gebildet, in der wir uns zusammen mit unseren Themen befinden. Sehr persönlich und privat sowie ganz allgemein und thematisch auf die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert bezogen. Deutlich ist, dass sich „Geschichte“ nicht abstrakt abspielt, sondern dass wir Menschen mit unseren Dispositionen, Stärken und Schwächen, unseren Vorlieben, Ängsten und Wünschen das seelische Feld dafür bieten und das über Generationen weitergeben. Geschichte ereignet sich zwischen Menschen, in der persönlichen Weitergabe von Werten und Normen – nicht in Geschichtsbüchern.

Es gibt viel zu tun, denn die verletzlichen Frauen wollen in ihrer eigenen Geschichte ankommen und die Verletzungen, Verunsicherungen und Traumata ihrer Eltern freigeben.

(Fortsetzung folgt.)

Sonntag, 12. Februar 2012

In Kürze...

...erscheint der nächste Blogtext.

Herzlich!
Sophie Pannitschka

Sonntag, 5. Februar 2012

Kampf ums Dasein. Ohne Wunde kein Angebot an die Zukunft

Als Anna sich auf den Weg machte wieder auf die Erde zu kommen, suchte sie sich einige Grundbedingungen aus, die ihr auf ihrem Lebensweg Dienste leisten sollten – so hatte sie es offenbar zum Zeitpunkt der Entscheidung einer erneuten Inkarnation angenommen. Und, das ist ja klar, aus der geistigen Welt leuchten die irdischen Dinge in einem etwas anderen Licht als aus der Bodenperspektive. Also, dort in der Umschlagsphäre, nachdem sie alte Erfahrungen beleuchtet, gefühlt und erkannte hatte, wählte sie den bestmöglichen Ort, die passende Zeit und geeignete Bedingungen für einen erneuten Weg.

Dummerweise vergaß sie alle weisen Gedanken, Vorhaben und Einsichten als sie geboren wurde. Sie kam vor dem offiziellen Geburtstermin, wurde in Steißlage geboren und in ein Säuglingszimmer transportiert, damit die junge, noch studierende Mutter, die sich erst noch mit dem Gedanken anfreunden musste, nun ein Kind zu haben, wieder zu Kräften kommen konnte. Anna schlief viel und wenn sie wach war benutzte sie ihre Stimme kräftig, um irgendwie Aufmerksamkeit zu erlangen.

Zupass kam den jungen Eltern, dass die Kleine morgens lange schlief, des Abends jedoch, wenn sie politisch aktiv waren, pokerten sie darauf, dass das Baby auch dann schlief – was offensichtlich nicht immer der Fall war. Schon in den ersten Jahren bekam Anna eine rauere Stimme – der Arzt sagte später, dass es sich um Schreiknötchen an den Stimmbändern handele – mit der sie sich immer wieder versuchte Gehör zu verschaffen.

Sie hatte für den Beginn ihres Lebensweges spannende, unruhige und aufregende politische Zeiten in Deutschland gewählt – in ihrem Elternhaus wurde lautstark und täglich über die Geschehnisse und vor allem die notwendigen Veränderungen diskutiert. Aufrufe wie: „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ hingen schon im Kinderzimmer. Gesungen wurde, auf Demonstrationen, im Kinderladen und auf dem Spielplatz:

„Es ist am Morgen kalt, da kommt der Willibald
und klettert in den Bagger und baggert auf dem Acker
ein großes tiefes Loch - was noch?

Naja, so fängt das an; dann kommen alle Mann.
Sie bauen erst den Keller, dann bauen sie immer schneller,
was kommt dabei heraus? - Ein Haus!

Und in das Haus hinein zieh‘n feine Leute ein.
Die Miete ist sehr teuer, kost' über 1.000 Eier.
Wer kriegt die Miete bloß? - Der Boß!

Der Boß kommt ganz groß 'raus, dem Boß gehört das Haus;
dem Boß gehört der Acker, der Kran und auch der Bagger,
und alles, was da ist - so'n Mist! […]“
von Dieter Süverkrüp

Annas Familie war up to date. Modern, aufgeklärt – ohne alte Konventionen, Gewohnheiten oder überkommene Sitten und Bräuche. Keine Volkslieder, Märchen oder Legenden – sondern politische Aufklärungsarbeit. Alles wurde rational überprüft, gewertet, gewichtet und meistens für unbrauchbar befunden. Annas Kindheit wurde vom Materialismus geprägt. Keine Religion, keine Jahresfeste, keine Rituale oder Sakramente. Was es gab waren Diskussionsrunden, politische Manifeste und Demonstrationen.

„Die Anderen“ machten es verkehrt, waren reaktionär, altmodisch und konventionell verhaftet. In Annas Welt war man „gegen“ etwas (ungefähr gegen alles), gegen das Alte, das Überkommene, gegen Traditionen, Klischees und alt hergebrachte Rollenverteilungen. Jeder „durfte“ sich jeden Tag neu erfinden – was zählte war die politische Korrektheit – Gedanken spielten die entscheidende Rolle, Gefühle, Sehnsüchte und Wünsche gab es nicht.

Als Anna größer wurde fragte sie sich immer wieder, warum sie diese Lebensbedingungen gewählt hatte, welche Entwicklungsmöglichkeiten darin versteckt lagen, wozu das alles diente. Wofür sie sich Eltern ausgesucht hatte, die im Zweiten Weltkrieg Flüchtlingskinder waren, die kaum eine Familie kannten, keine Heimat, kein Nest, deren Werte und Normen so brutal über den Haufen geworfen wurden? Warum wuchs sie ohne religiöse Einbindung auf, wieso lernte sie die Natur nur in den Ferien kennen, warum hatte sie (auf intellektueller Ebene) einen erneuten Kampf ums Dasein zu führen?

Anna sehnte sich oft nach Geborgenheit. Nach Wärme und Nähe. Doch sie selbst musste erst lernen, diesen Komponenten in ihrem Leben Raum zu verschaffen. Die Wunde heilen zu lassen. Aus dem Verlust in der Vergangenheit wurde eine Sehnsucht in der Zukunft. Alles war auf die Zukunft ausgerichtet, dort sollten sich Löcher, Versäumnisse und Unbekanntes in eine Kultur transformieren, die von Wärme, Anerkennung und Respekt getragen war.

War das die Schale (die sie offensichtlich in der geistigen Welt beschlossen hatte zu bilden), die ihr Leben bis zu diesem Augenblick hervorgebracht hatte, aus der heraus die Leere und der schwankende Boden unter ihren Füßen zu Wahrnehmungsorganen wurden, die das Zarte, Sanfte und Warme im Leben auf postmoderne Art keimen lässt?