Sonntag, 27. November 2011

Tod und Geburt. Zwischen Himmel und Erde

Die Nacht entlässt mich mit einem diffusen Gefühl der Ungewissheit: Was gehört in die geistige Welt, was gehört auf die irdische Welt? Ich versuche den Klang meines Herzens zu hören, ihm nachzuspüren. Aber mich bedrängen Gedanken. Gedanken wie von Gespenstern geschickt: kühl, unsichtbar, beunruhigend. Ein fahles Gefühl der Unwägbarkeit umschwingt mich. Ich brauche eine Kerze, ich brauche einen Lichtpunkt, der in mein Inneres dringt, der mir Halt gibt.

Ich schaue in das Licht der Kerze, die neben deinem Bild brennt. Ich sehe dein Lächeln, deinen Blick in die Kamera der mir suggeriert, dass du mich anschaust. Dein Lächeln erstarrt in mir. Neben deinem Bild steht die Todesanzeige. Darin stehen die Daten klipp und klar. Dein Leben hier auf der Erde ist beendet. Das atmende Schwingen von Augenblick zu Augenblick muss sich transformieren. Das, was wir bisher kannten, am Leben des Anderen teilzunehmen, uns zu treffen, miteinander zu sprechen, Anteil zu nehmen, kann so nicht weitergeführt werden.

Deinen toten Leib habe ich gesehen. Er bleibt hier auf der Erde – von Rosen umkränzt. Du, so heißt es, seist nun in der geistigen Welt. Dort, im großen, unendlichen Sein. Dein Leben „nachbereitend“, Abschied nehmend, und dann, irgendwann, wieder „vorbereitend“, dich erneut der Erde nähernd. Wie das wohl sein muss, so ohne Körper? Ganz im Seelisch-Geistigen? Ich merke, dass ich gedanklich an Grenzen stoße, mein Herz empört sich, ich möchte dich gerne wiedertreffen.

Mein Tag ist ganz durch das irdische Leben geprägt. Mein Körper braucht Wärme, Nahrung und Bewegung. Meine Seele braucht Menschen, Vorhaben, Sinn. Und mein Geist sucht nach den Zusammenhängen, nach lebendigen Begriffen, nach einer Einbettung. Tage und Nächte wechseln einander ab, manchmal sanft, manchmal stürmisch, einsam oder gemeinsam, getragen vom irdischen Leben.

Was ist der Tod? Du bist weg und du bist da und ich bin irritiert. Aus meiner Spur geworfen worden. Was von Bedeutung ist sind Erfahrungen, Erlebnisse, daran kann ich mich halten. Was aber auch Aufmerksamkeit verlangt sind die Gefühle, die als Zeichen am Wegrand des Tages in die Nacht mitgenommen werden. Gefühle des Verloren seins, des Aufgehoben seins, der Begrenzung. Gefühle der Demut vor dem Leben und der Achtung vor dem Tod.

Ich höre deine Stimme. Deine Stimme, die nie wieder sprechen wird. Wie ist das zu denken, was passiert da? Ich erinnere mich an gemeinsame Zeiten. Wärme und Schmerz wechseln einander ab. Ich „kannte“ dich nur in deiner „Verleiblichung“ – habe ich überhaupt Zugang zum Großen, zum Ganzen? Zu dieser offenen Zukunft, die nur wie eine große und sanfte Ahnung zu erspüren ist und geistig unsäglich weit vor uns liegt?

Deine Tage auf Erden waren gezählt, so, wie sie für uns alle gezählt sind. Aber wir wussten es nicht, wir wissen es nicht, wir haben keine Handhabe in diesem Bereich. Ich ertrage die Tage nur mit Musik, nur mit dem Prayer von Ernest Bloch (aus dem Zyklus: From Jewish Life). Die letzten Novemberblüten schwinden in diesen Tagen dahin und leiten zu den klaren und kalten Sternennächten in der Adventszeit über.

Möge die Er-wartung dazu führen wieder eine physisch-seelisch-geistige Einheit zu werden. Wir gehen auf Weihnachten, auf die Geburt schlechthin zu, der – irgendwann – wieder ein Tod folgen wird.

Samstag, 19. November 2011

Anna. Prägungen am Ende der 60er Jahre im Ruhrgebiet

Anna ist ein Kind und sitzt auf der Küchenanrichte vor der Fensterfront. Sie schaut hinaus. Da sie sich in einem hohen, neuen, grauen Hochhaus befindet, hat sie einen weiten Blick. Sie sieht den Friedhof, dahinter das Opel-Werk. Das Werksgelände wird von riesigen, roten Backsteingebäuden gegliedert, darum herum stehen viele, viele Autos – ordentlich sortiert. Aus Annas Blickwinkel sehen sie wie Spielzeugautos aus.

Die Wohnung ist großzügig geschnitten, der Hochhauskomplex eine Neuerung gegen Ende der 60er Jahre. Wohnen, arbeiten und leben gehen ineinander über. Universität, Einkaufszentrum und Lebensräume sehen gleich aus. Grauer Beton – Hochhäuser. Hier trifft sich die junge aufgeschlossene Akademiker-Generation, die an der Basis des proletarischen Lebens gesellschaftliche Erneuerungen diskutiert. Hier, in der neu entstehenden Betonwüste, ist die gedankliche Quelle für ein zukunftsweisendes Leben nach der Katastrophe der beiden Weltkriege, hier werden gesellschaftliche Entwürfe konzipiert – alles wird anders, neu und besser.

Als Anna die Wohnung durchquert hat, steht sie auf dem kleinen Balkon. Sie kann gerade über die Betonbrüstung schauen. Sie sieht weitere Hochhäuser, dazwischen gepflasterte Wege auf denen man mit Mühe Rollschuh fahren kann, und kleine abgezäunte Wiesenstücke, auf denen manchmal ein Schild steht: Betreten verboten. In der Siedlung bewegt sie sich frei. Dort fahren keine Autos. Überall sind Kinder unterwegs und es gibt verschiedene Fraktionen, Clubs und Gangs.

Anna spürt, dass das Lebenskonzept ihrer Familie nicht mit allen anderen übereinstimmt – hier treffen Welten aufeinander. Sie soll zum Beispiel nicht weitererzählen, dass die roten Plakate, die überall auf ihrem Schulweg an den Wänden kleben, von dem Netz um ihre Eltern in einer nächtlichen Aktion „geklebt“ wurden. Nachdem sie aus dem antiautoritären Kinderladen in die gemeine Grundschule kommt, wird sie mit Lebensentwürfen anderer konfrontiert. Da sie das älteste Kinderladenkind ist, kommt sie „alleine“ in eine Klasse in der Grundschule, dort findet sie zwei neue Freundinnen.

Die eine heißt Kerstin. Sie kommt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus. Die kleine Anna staunt, dass sie die Eltern mit einem Sie anreden soll. Hier gibt es Blumentapeten an den Wänden. Ein Wohnzimmer aus Eiche, Sessel und Sofas mit drapierten Wohnzimmerkissen darauf. Am Sonntag Sauerbraten, Rotkohl und Salzkartoffeln. Auch geht man in die Kirche und zieht über die politischen Unruhen her, schimpft über Plakate, die überall hin geklebt werden. Anna spürt, dass es sich hier um ein gänzlich anderes Lebenskonzept handelt. Ihre Eltern scheinen diese Familie nicht besonders zu schätzen.

Die andere Freundin heißt Silvia. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern in einer kleinen Sozialwohnung. Abends geht die geschminkte Mutter, nachdem sie tagsüber die Wohnungen begüterter Familien geputzt hat, in die Trinkhalle um „noch ein bisschen Spaß“ zu haben. Anna hört hier Worte wie „Stubenarrest“ und Phrasen wie „darf ich nicht, hat Mutti verboten“ zum ersten Mal. Hier wird derbe geschimpft und die Mädchen müssen spuren. Rauchen, Biertrinken und abends mit einem Mann flirten – das sind lebenswerte Ziele.

Auch diese Familie gehört nicht zu den ebenbürtigen Gesprächspartnern von Annas Eltern. Jedoch bekommt sie für diese Freundschaft Unterstützung, denn „dem Proletariat“ müssen ja die Augen geöffnet werden – hier liegen die Keime für den gesellschaftlichen Umsturz. Bevor Anna am Abend zu Bett geht, wird beim Abendbrot mit Freunden der Eltern noch lautstark über „reaktionäre Bullenschweine“ diskutiert. Annas Eltern wissen wo es lang geht. Sie haben das richtige Verständnis für den gesellschaftlichen Umsturz.

Doch am nächsten Morgen sieht die Welt anders aus. Auf dem großen Parkplatz vor den Hochhäusern wurde ein Serieneinbruch in alle dort stehenden Autos durchgeführt. Auch das Auto von Annas Eltern wurde aufgebrochen. Und nun soll sie mit ihrem Vater zur Polizeiwache fahren, um Anzeige zu erstatten. Während sie auf der Polizeiwache warten, versucht sie ein Plakat zu lesen: „Die Polizei – dein Freund und Helfer“. Sie erinnert sich vage an das Gespräch am Abend zuvor, war da nicht von „Bullenschweinen“ die Rede? Es musste um eine andere Gruppe von Menschen gegangen sein…

Anna ist verwirrt. Was ist richtig, was ist falsch? Wer ist gut, wer ist schlecht? Worum geht es überhaupt? Und wofür sollen all diese nicht enden wollenden Diskussionen gut sein? Bei der nächsten Demonstration sieht sie, dass die Demonstrierenden von Polizisten (dein Freund und Helfer?) „begleitet“ werden. Oder sind es hier wieder „reaktionäre Bullenschweine“ die das Spalier rechts und links bilden? Und die Familie von Kerstin – wird der Vater bei den Nachrichten gerade über die Teilnehmer dieser Demonstration fluchen? Und Silvias Mutter, wird sie in der Trinkhalle etwas davon erfahren, wogegen auf den Straßen demonstriert wurde?

Mittwoch, 9. November 2011

Suche nach Trost.

Zum Tod von Angela Albeck-Henke am 4.11.2011

Wenn ein Geist stirbt,
wird er Mensch.
Wenn ein Mensch stirbt,
wird er Geist.
Novalis

Angela, du bist gegangen. Du hast dich blitzschnell aus der irdischen Welt zurückgezogen, bist von dieser Erde verschwunden. Plötzlich, unerwartet und überraschend. Die Tür der geistigen Welt hat sich geöffnet und du bist hineingeschlüpft. Lungenembolie wird gesagt. Keine Chance. Die Nachricht kam einige Stunden später. Deine große Tochter hat mich angerufen. Mutig und tapfer: „Du, die Mama ist gestorben.“ Diese Nachricht hat mich gepackt, sie macht mich sehr betroffen. Wir waren gleich alt und haben so viele gemeinsame Tage verbracht. Das was war, wird nun Erinnerung genannt.

Du warst zart und schmal gebaut und doch voller innerer Kraft. Zäh warst du in jeglicher Hinsicht. Es war immer eine Leichtigkeit um dich. Du hast voller Positivität in die Welt geblickt. Auch dann, wenn die Situation schwierig war. Du hast das Helle und Gute in der Welt hervorgehoben. Dich hat es immer ins Licht gezogen. Und diese Kraft hat dich nicht nur getragen, sondern diese hast du auch ausgestrahlt. Schönheit war dir wichtig, Ästhetik. Du trugst immer Schmuck, eine Perlenkette und Perlenohrringe. Gleichzeitig hattest du etwas ganz Bescheidenes.

Ich habe immer wieder gestaunt über dich, denn ich bin so ganz anders veranlagt. Was du wirklich in großartiger Weise konntest war, dich aus der Sympathie für einen Menschen heraus für dessen Themen zu begeistern. Dich dafür zu interessieren. In der Hinwendung zu anderen Menschen bist du immer ein Stück den Weg des Anderen mitgegangen, um deinen eigenen zu suchen. Du konntest offen und voller positiver Zuwendung sein. Soweit ich weiß sind dir Erfahrungen mit der Unterwelt erspart geblieben.

Dich hat die klassische Musik getragen. Und daraus konntest du nicht nur schöpfen, sondern du konntest damit auch andere tragen und erheben. Ihnen in der eigenen Musik, im Klang des Lebens eine Heimat geben. Deinen Blick hast du auch auf Kinder gerichtet. Auf deine eigenen und auf die Kindergartenkinder, die du begleitet hast. Du hast das Werdende im Menschen gesehen und unterstützt. Hast Fähigkeiten wachsen lassen. Und so warst du auch selber eine sich Wandelnde, im sanften Lufthauch des Lebens sich Bewegende, deren Standpunkt zwar klar, mir aber nicht immer zugänglich war.

Ich erinnere mich gerne an unsere erste Begegnung, ich stand an deiner Haustür, weil ich in ein fremdes Dorf gezogen war und bat darum, euch kennen zu lernen. Daraus erwuchs eine lebendige Freundschaft. Unsere Kinder waren sich jahrelang die nächsten. Wir haben den Alltag miteinander geteilt, aber auch zusammen gearbeitet. An geistigen Fragen zum Beispiel, du hast dich dem Rosenkreuzertum so nah gefühlt. Und wir haben gemeinsam im Kindergartenvorstand um das soziale Miteinander gerungen. Wir kamen beide aus der Stadt und waren auf dem Land gelandet. Die Jahre in Königsfeld sind für mich durch dich und deine Familie in leuchtender Erinnerung.

Unser letztes Gespräch handelte von einem möglichen Teilzeit-Studium an der Alanus Hochschule in der Kindheitspädagogik, damit du deine berufliche Tätigkeit hättest professionalisieren können. Dein Leben lag vor dir, so dachten wir alle, die Zukunft ganz offen. Aber plötzlich hat sich die Tür geschlossen. Nun blicken wir auf die irdische Vergangenheit und müssen mit dem plötzlichen Übergang umgehen. Das was kommt, deine geistige Zukunft, können wir nur erahnen. Angela, du bist mitten im Leben und plötzlich gestorben, in die geistige Welt zurückgekehrt. Ich werde dich vermissen und bin dir sehr dankbar, dass du meine Freundin warst.

Freitag, 4. November 2011

Kinder, Krieg und Komplexität. Emilie und Karl

„Kriegskinder“ nennt man sie, die „vergessene Generation“ – heutige Großmütter und Großväter – die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs geboren wurden. Wie war das damals eigentlich mit den Flüchtlingsströmen? Wie ging es diesen Kindern, die in die Unbehaustheit einer gepeinigten Generation geboren wurden und deren Kinderjahre durch die zerstörerische Politik der großen Männer in den Regierungen geprägt war? Was wissen wir davon und was ist daraus entstanden?

Wohin mussten sie ziehen, tagelang mit ihren kleinen Füssen laufen? Ihr Zuhause, ihre Betten und geliebten Spielsachen hinterlassend? Was hat sich in ihre Seelen eingegraben? Wie sind sie mit Angst und Furcht, Mord und Totschlag umgegangen? Wie oft mussten sie mit hungrigem Magen frierend ins Bett gehen? Und wie lang haben die Kinder und Mütter auf die Väter und Männer gewartet und gehofft?

Im Alter kommt die Vergangenheit hoch. Unbewusst. Irgendwie. Hat sie eine Verbindung zu den Wunden, die in Kindertagen geschlagen wurden? Emilie und Karl gehören zu dieser Generation. Sie haben ihr Berufsleben erfolgreich hinter sich gelassen, sind gesund, lebenslustig und erfreuen sich vieler kultureller Aktivitäten. Trotzdem scheint es mir so, als wenn sich ihre Vergangenheit nun bemerkbar macht.

Ich beobachte Emilie. Sie hat sich Zettel und Stift geholt und setzt sich mit ihrem Tee an den Küchentisch. Es wird eine Menge einzukaufen geben. Die Tage werden geplant – was gibt es wann zu essen? Es soll an nichts fehlen, morgens, mittags, abends – eventuell noch zwischendurch. Sie stellt sich die Mahlzeiten vor und berechnet die Anzahl der Eier. Natürlich stehen Milch, Butter und die verschiedensten Käsesorten auf ihrer Liste, aber auch Ingwer, Zitronengras und Kardamon. Die Listen werden lang und länger – sie differenziert die einzukaufenden Dinge gleich nach den Orten, an denen sie erstanden werden können.

Derweil sitzt Karl im Lehnstuhl und liest die Zeitung. Er ist bei den Immobilien angekommen, überfliegt die Angebote. Immer öfter denkt er daran, das alte Haus hinter sich zu lassen. Obgleich er schon Jahrzehnte darin wohnt, ist es ihm nicht zur Heimat geworden. Es müsste renoviert werden, so viele Ecken des Hauses schreien nach Pflege. Aber seit die Kinder groß und aus dem Haus sind, ist seine Energie diesbezüglich geschwunden. Seine Kräfte setzt er nun für die Malerei ein – ein Atelier hat er sich im verlassenen Kinderzimmer eingerichtet - werden dort Bilder gemalt, die die Vergangenheit aufarbeiten, oder solche, die die Zukunft vorbereiten?

Emilie beginnt vorzukochen. Sie will schon mal möglichst viel vorbereiten. Der Zeit vorauseilen – wer weiß, was kommt. Sie brutzelt, kocht und backt und der Kühlschrank ist wie immer zu klein. Wenn die Familie kommt, soll alles bereitet sein, sie möchte sich ihren Gästen zuwenden und dann nicht beschäftigt sein. Im Winter lassen sich die Vorbereitungen auf dem Balkon aufbewahren, aber auch da verdirbt schon mal etwas. Überhaupt passiert es immer öfter, dass Reste bleiben, Tag für Tag, und dass sie gegessen werden müssen, bevor die Speisen ganz verderben. Zur Sicherheit bewahrt sie auch einige Konservendosen in ihrem Keller auf – manche stehen dort seit Jahren.

Neulich hat Karl sich selber sagen hören, dass ein Umzug für ihn kein Problem sei, denn er sei ja in seinem Leben schon so oft umgezogen… Ist ihm dabei gar nicht aufgefallen, dass er schon fast sein halbes Leben in gerade diesem Haus lebt? Für die Kinder braucht es nicht erhalten zu bleiben – die sorgen für sich selber. Und so denkt er auch nicht. Nein, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und bleibende, zu übertragende Werte gibt es nicht. Karl lehnt sich zurück, trinkt einen Schluck Rotwein und schließt die Augen. Was will er – abgesehen von den Bildern -noch vom Leben? Das Haus bedeutet ihm nicht viel… Eigentlich hat er doch alles meisterhaft geschafft.

Könnte es sein, dass Emilie und Karl in dieser Hinsicht von ihrer Kindheit gelenkt werden – und je älter sie werden, um so mehr? Getrieben von einer Kraft, die ihnen in ihren Kindertagen, als sie am Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Flucht waren, zur Überlebensstrategie, zum Normalzustand wurde? Die bange Frage, wie lange der Hunger bleibt, die Sorge um die nächste Mahlzeit – da wurde schon mal etwas Verdorbenes gegessen. Und die unausgesprochene Frage, wo das nächste Haus steht, das Obdach gewährt und für kurze Zeit Schutz bietet, prägte sich in der Zeit, als ganz Europa erschüttert wurde, tief in die Kinderseelen ein.

In Deutschland herrscht äußerer Friede. In den Herzen der Menschen aber, die im und nach dem Krieg geboren wurden, kommen die unverdauten Schrecknisse wieder ans Licht. Der Krieg und die Nachkriegszeit: wie gestern. Und gleichzeitig: wie in einem fremden Film. 'Persönliche Eigenheiten' nennt man die Charakterzüge. 'Individualitäten die das Leben geprägt hat'. Gibt es für die Kriegskinder auf ihre alten Tage, nachdem die meisten Lebensherausforderungen geschafft zu sein scheinen, ein Trauma aufzuarbeiten, eine Wunde zu heilen?