Samstag, 24. September 2011

Im Zwischenraum. Fragen statt Antworten

Heute gibt es Fragen - keine Antworten.

Am Morgen
Wofür bin ich heute früh aufgewacht?
Was habe ich aus der Nacht mitgebracht?
Wie klingt das Gestern im Heute nach?
Wohin will ich, wenn ich in den Spiegel schaue?
Was bringe ich dem Tag mit?

Am Abend
Wie schaue ich auf den Tag zurück?
Was hat mich heute berührt?
Was ist mir heute gelungen?
Was habe ich heute vergessen?
Was kann ich der Nacht anbieten?

Wie hängen Tage und Nächte und Nächte und Tage zusammen?
Was kommt? Was vergeht? Was bleibt?
Was bin ich?

Samstag, 17. September 2011

Zukunft gestalten. Die soziale Beichte zwischen mir und dir

Was mich an vielen toskanischen Städten wie Firenze, Siena, Arezzo oder Pisa fasziniert, ist die bewahrende Haltung, die überall zu spüren ist: Es gab mal eine große Zeit in Italien… und die wird bewahrt. Bis heute, und vermutlich auch darüber hinaus. Es gab einmal eine Zeit, in der die Gegenwart gegenwärtig war. Als aus der Vergangenheit heraus die Zukunft gestaltet wurde. Das waren lebendige und aufstrebende Zeiten, die sich in der Kunst, der Stadtplanung und dem Bild des Menschen mit all seinen Möglichkeiten ausdrückte. Kurz, als der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit vollzogen wurde.

In der Renaissance erinnerte man sich an die Wurzeln in der Antike und schuf aus der Verbindung etwas Neues: den Menschen, der zum Schöpfer seines eigenen Lebens wurde. Die Künstler begannen zum Beispiel ihre Werke zu signieren, persönlich Verantwortung zu übernehmen und sich von Kollegen zu unterscheiden. Wer heute in die toskanischen Städte reist, kommt nicht darum hin, seinen Blick auf die Werke aus der Renaissance zu werfen. Und die Italiener sind noch heute stolz darauf, was ihre Landsleute einst vollbracht haben.

Die Renaissance war eine große Zeit. Ist Italien heute ein Land der Vergangenheit? Ein steinernes Mahnmal der aufstrebenden Kräfte von damals? Wo sind die Kräfte heute, wo wird nun an der Zukunft gebaut? Wo bündeln sich die Kräfte, so dass ein weiterer Bewusstseinssprung gemacht werden kann?

Als ich in diesem Sommer in La Verna war, dem Ort, an dem der Hl. Franziskus seine Offenbarung hatte, habe ich eine skurrile Situation erlebt. Mit vielen anderen Touristen lief ich den Rundgang durch die Gemäuer auf dem Berg. Die Italiener um mich herum palaverten laut und gestenreich. Von heiliger Stille war nichts zu erleben. Auf einmal wurde ich auf zwei schmale Türen aufmerksam, die direkt nebeneinander in einem langen Gang auftauchten. Die obere Hälfte war jeweils aus Glas, so dass jeder, der hinschaute auch sah, was sich dahinter (nicht) verbarg.

Es war ein Beichtstuhl. Getrennt durch eine vergitterte Trennwand. Und auf der einen Seite saß ein dunkel gekleideter Mönch, auf der anderen Seite eine junge, elegante Frau mit langen blonden Locken. Ich sah, dass die Frau mit gesenktem Haupt sprach und der Geistliche auf der anderen Seite zuhörte. Ich nahm an, dass sie beichtete und er ihr die Absolution erteilen würde. (Und die Touristen schauten durch die Glastür dabei zu.)

Mir sprang unmittelbar ins Bewusstsein, dass dieses Vorgehen zwar immer noch ein menschliches Bedürfnis ist, in seiner Art aber vollkommen verfehlt praktiziert wird. Die Zeit, in der sich ein Individuum über ein anderes „erheben“ und jemanden von seinen Verfehlungen freisprechen kann, ist meines Erachtens absolut vorbei.

Was heute zeitgemäß ist, ist eine „soziale Beichte“. Ist das offene und gleichzeitig sehr intime Gespräch mit dem oder den Mitmenschen. Zum einen braucht es eine kleine Gruppe von Menschen, die sich dafür öffnen, demjenigen, der sich zeigt, zuzuhören. Und zum anderen ist das, was „früher“ die Absolution eines Geistlichen war, der eigene „Lern- und Verwandlungsprozess“ geworden. Dafür braucht es einen geschützten Raum (das eigene Lebensumfeld), der heute zu jedem Zeitpunkt unseres Alltagslebens und an jedem Ort geschaffen werden kann.

Wenn wir uns als Menschen mit unseren Stärken und Schwächen nicht mehr voreinander verstecken, sondern uns für zwischenmenschliche Begegnungen bereitmachen, entsteht ein Raum, der uns in die Zukunft führt. Der eine neue „heilige Kathedrale“ zwischen mir und dir (Emmanuel Lévinas) entstehen lässt, in der Kerzen entzündet werden können und ein jeder Asyl findet, der darum bittet.

Vielleicht ist die Zeit vorbei, in der ein Volk oder ein Land zu einer Hochkultur avanciert, die wir mit Jahreszahlen und auf der Landkarte verorten können. Ich bin überzeugt davon, dass die Zeit begonnen hat, in der die Zukunft eine Hochkultur hervorbringt, die zwischen mir und dir entsteht. Kathedralen werden zwischenmenschlich entstehen und Bußvorgänge (wenn sie dann noch so heißen) werden zu Anteilen des sozialen Lebens.

Ich kenne einige Gruppen, in denen die Wege erkundet werden, auf denen eine erneute Renaissance des Menschen stattfinden kann – vielleicht ohne Steinbauten die noch nach Hunderten von Jahren angeschaut werden können, sondern auf ätherischen, zwischenmenschlichen Ebenen, die freie Individuen unterstützen, ihre eigene Biographie – in einem sozialen Kontext! – zu gestalten.

(Ich denke zum Beispiel an die Arbeit von Bernard Lievegoed, an die Elias-Initiativgemeinschaft, an Adventura, an die Arbeit von Coenraad van Houten, an NALM www.nalm.net )

Sonntag, 11. September 2011

Und wieder Parzival. Na und?

Die Frage, ob Parzival für die Deutschen steht, ist müßig. Nachdem die Geschichte von Perceval durch den altfranzösischen Dichter Chrestien de Troyes an Wolfram von Eschenbach gelangt war, wurde sie in mittelhochdeutscher Sprache niedergeschrieben. Die deutsche Kultur ist auch heute noch stolz auf das große epische Werk und präsentiert es gerne. Es ist kein ausgesprochen „deutscher Weg“ den Parzival geht, nein, es ist ein mitteleuropäischer – würde ich sagen. Als ich die Geschichte mit 17 Jahren zu ersten Mal las, spürte ich eine Zuneigung zu dem Netzwerk um Parzival, zu dem Geschehen als solchem und vor allen Dingen zu den besonderen Namen all der verschiedenen Figuren.

Lange Zeit stand für mich der Umstand, dass Parzival immer wieder eine neue Chance bekommt, obwohl er sich so oft etwas zuschulden kommen lässt, im Vordergrund. Sein Lebensweg ließ sich durch die Geschichte verfolgen, seine Fehltritte beklagen und am Ende die Gralskrönung mitfeiern. Parzival wurde, obwohl im Mittelalter geschrieben, der Inbegriff einer modernen Biographie in der Neuzeit, zu der das Dunkle, das Böse, das Falsche und das Unmoralische dazugehören.

Wenn man die Erzählung in Krisenzeiten zu Rate zieht, kann sie Hoffnung, Einsicht und Durchhaltevermögen schenken. Denn, unwiderlegbar, Parzival hat es – am Ende! – doch noch geschafft. Wenn es stimmt, dass seine Biographie exemplarischen Charakter hat, dann frage ich mich manchmal, an welcher Stelle ich mich gerade befinde. Habe ich etwas „falsch“ gemacht, geht es „wieder“ abwärts? Oder habe ich etwas verstanden und es geht einen kleinen Schritt aufwärts? (Auch interessant wäre es, die deutsche Geschichte auf das Parzival-Geschehen zu übertragen. An welcher Stelle könnte man den Holocaust ansiedeln? Und, gelingt so ein Weg tatsächlich „immer“ – führt er „immer“ zur Versöhnung?)

Heute stehen für mich in Bezug auf die exoterische Parzival-Geschichte nicht mehr so sehr Fehler und Wiedergutmachungen im Vordergrund, sondern die „Möglichkeit“, die sich auf esoterischer Ebene anbietet, und die mich durch ihr Angebot fasziniert:

Parzival beschreitet – exemplarisch – seinen Lebensweg, der ein Einweihungsweg ist. Das Ziel diese Weges ist: individuelle Freiheit und geistige Autonomie zu erringen. Geistesgeschichtlich betrachtet ist es der erste Gralshüter „Titurel“, der der Träger dieses Impulses für die Menschheitsentwicklung ist, und sie vom alten Priesterkönig Melchisedek übernommen hat, und der sein hohes Amt nun, am Übergang von den alten zu den neuen Einweihungen, an „einen“ Schüler weitergibt, der sich Parzival nennt. Parzival wird Träger seiner Fackel.

Ich erinnere an die Erzählung: Parzival kommt nach seinem langen Weg ein zweites Mal in die Gralsburg. Diesmal wird er von Kundry, der Gralsbotin, geführt. Auch Feirefiz, sein heidnischer Bruder ist dabei (was schon an sich eine unglaubliche Erneuerung ist!). Auf esoterischer Ebene wird beschrieben: Als Parzival dem alten Greis Titurel gegenübersteht, verschwindet für ihn die ganze Welt. Stattdessen wächst ein pflanzenartiges Gebilde, einem Baum ähnlich, immer größer und schneller heran. Es ist der Lebensbaum, der schließlich den ganzen Raum erfüllt. Im Vordergrund erscheint eine Lilie, eine weiße Lilie, die einen übelriechenden Geruch verströmt.

Für Parzival ertönt die Stimme von Blanchefeur: „Das bist du!“

Die Lilie stellte alle Eigenschaften dar, die Parzival mit Hilfe der Götter aus seiner Seele vertrieben hatte, die aber noch nicht gänzlich verschwunden waren, die innerlich noch nicht verarbeitet und transformiert worden sind. Leidenschaften und Schmerzen sind unmittelbar erlebbar. Das ist ein schockierendes Erlebnis für Parzival. Nach dieser Erkenntnis verschwindet alles. Finsternis umgibt ihn. In der Dunkelheit entsteht etwas Neues: eine rote Rose erscheint an einem schwarzen Kreuz.

Und die Stimme von Flos ertönt: „Das werde du!“

Parzival sieht das tödliche schwarze Kreuz. Er sieht die spitzen Dornen. Und er riecht den wunderbaren Duft. Er versteht: Er muss noch einmal beginnen. Ohne die Hilfe der Götter. Er muss sein niederes Ich an das schwarze Kreuz schlagen und Christus in seinem Sterben am Kreuz folgen. Erst dann kann er individuelle Freiheit und geistige Autonomie erringen.

Gerade an der Stelle, an der die exoterische Geschichte mit der Gralskrönung des „tumben Toren“ endet, beginnt der esoterische Weg. Ist die Menschheit (die mitteleuropäische?) auf ihrem irdischen Weg, durch Fehler, Schuld, Mord und Unmoral, nun am Tor der geistigen Einweihung angelangt, um von einer weißen Lilie zu einer roten Rose zu werden?

Die vielfältigen Lebensbeziehungen laden zu dieser Transformation ein. Es heißt, dass es heute keine geheimen Einweihungsorte mehr gibt, sondern sich jeder Bahnhof dafür zur Verfügung stellt. Jeder kleine Blumenladen an der Ecke hat Lilien und Rosen. Und die menschlichen Bezüge bieten das Material für die Transformation: die verwandtschaftlichen Verbindungen, die jeder von uns hat, die freundschaftlichen, die funktionalen, die gesellschaftlichen, legalen, illegalen und geistigen. Jeder von uns kennt freie und unfreie menschliche Verbindungen, gewollte und ungewollte, glückliche und unglückliche – bewusste und unbewusste. Das mehrdimensionale Netz von menschlichen Bezügen ist das Einweihungsmaterial für jeden Parzival von uns.

Die Hoffnung, dabei zur Rose zu werden, ist ein schönes Ziel.

Samstag, 3. September 2011

Momente. Sandkörnchen im Getriebe

Samstag, 23.21 Uhr
Ich sitze noch immer am Computer. Switche hin und her. Postfächer, Internet, Dokumente… Für eine Fußnote brauche ich noch Informationen. Werde ich sie über den Computer bekommen, dem virtuellen Eingangstor in die ganze Welt? Ich sitze in einem kleinen Nest und fühle mich wie am Puls der Zeit. Internet macht‘s möglich. Zwischendurch kommt eine Message aus den USA, ein Skypeanruf, eine Mail, dann eine SMS. Ich schreibe, recherchiere, lese. Und plötzlich spüre ich meine Müdigkeit. Die Leere in mir. Wo findet das wirkliche Leben statt?

Sonntag, 9.53 Uhr
Wir sprechen am Telefon miteinander. Ich höre mir die Neuigkeiten an, erfahre etwas über den Stand der Dinge. Wir sprechen über die Alltagssorgen mit den beiden kleinen Kindern. Und über die wunderbaren Freuden, die jeder Tag bereit hält. Das Leben aus Kinderaugen sieht so anders aus! Die "Dinge“ sind lebendig, werden eingeladen mitzuspielen, werden verwandelt, genutzt und plötzlich wieder fallen gelassen. Welch ein erhabener Moment, das erste Mal den eigenen Namen zu schreiben. Wie viele Buchstaben werden in ihrem Leben noch vor ihr liegen?


Montag, 14.09 Uhr
Ich sitze im Garten auf einem der roten Liegestühle, mitten auf der Rasenfläche. Die Sonne scheint warm, ich spüre die Wärme, wie sie meinen Körper erreicht und bedeckt. Ich trinke eine Tasse Espresso und schließe die Augen. Es ist still. Plötzlich spüre ich, wie an meinem Bein etwas an mir vorbei streichelt, es ist die Katze. Ohne, das etwas zu hören ist, schleicht sie durch das Gras. Hat etwas ins Visier genommen – einen Schmetterling? Ich blicke nach oben, die Blätter des Apfelbaumes tanzen leise vor sich hin. Dazwischen blauer Himmel. Die Natur schenkt.

Dienstag, 20.46 Uhr
Wir sitzen zu sechst um einen Tisch. Unsere Alter reichen von 19-86 Jahren. Der Zweitjüngste spricht. Erzählt von seinen Erlebnissen. Von einem Ort, an dem etwas Neues probiert wird. Er berichtet von dem, was ihn beschäftigt. Was seine Fragen an die Zukunft sind, wovon er träumt. Die Älteren von uns hören das, fühlen sich an ihre eigene Jugend erinnert und gleichen innerlich ab. Was ist aus meinen Idealen geworden? Wie lebe ich mein Leben, womit habe ich mich abgefunden und wofür gehe ich? Wie viel Gestaltungskraft habe ich, was setze ich um?

Mittwoch, 06.21 Uhr
Ich sitze im Zug. Fahre durch den Schwarzwald. Sehe, wie die Natur langsam erwacht. Tau liegt auf den Wiesen, Nebelschwaden hängen in der Luft. Das eintönige Geratter des Zuges verleitet zum Nachsinnen und Träumen. Auch die anderen Fahrgäste scheinen vor sich hin zu dämmern. Ich sehe zwei Rehe, die sich umblicken und zum Waldrand laufen. Die Natur zeigt sich offen und verwundbar. Langsam bricht die Sonne hervor. Der Tag ist noch jung, schön und gnädig. Als ich umsteigen muss ist der Zauber vorbei. Im ICE herrscht Geschäftigkeit.

Donnerstag, 11.58 Uhr
Wir sitzen im Büro und besprechen die Arbeit. Machen To-do-Listen. Blicken auf die Tage und Wochen vor uns. Was steht an? Was muss getan werden? Die Kraft des Sommers sitzt noch in unseren Gliedern – es werden Pläne geschmiedet. Ein Blick nach vorne, der große Wurf. Aber auch die Vergangenheit meldet sich. Das, was damals vor uns lag, die von langer Hand organisierten Ereignisse, werden nun auf uns zukommen. Das, was in der Vergangenheit für die Zukunft geplant wurde, wird nun Gegenwart. Es gilt: dabei zu sein, mitzumachen. Und wieder eine neue Zukunft zu organisieren.

Freitag, 16.37 Uhr
Ich blicke zurück. Die Woche neigt sich, eine neue wird in Kürze beginnen. Tag um Tag dreht sich die Erde. Sonnenauf- und -untergang – unwiderruflich – Tage und Nächte kommen und gehen. Zurückblicken kann ich, so lange mein Gedächtnis mich nicht verlässt – vorausblicken kann ich, soweit meine Fantasie reicht. Ich stehe dazwischen und nehme wahr, gestalte, nehme hin, freue mich oder lehne mich betrübt zurück. Das Rad des Lebens dreht sich. Wie ergeht es den anderen Sandkörnchen im Getriebe?