Samstag, 30. April 2011

Liebe D. – nimm eine Kerze in die Hand

Dein Leben scheint auseinander zu fallen. In eine Vergangenheit, die sich möglicherweise von dir löst, in eine Gegenwartsinsel, auf der du mit zitternden Beinen stehst und in eine Zukunft, von der du nicht weißt, welche es sein wird und ob du sie annehmen sollst. In einer Krise fallen Dinge auseinander, die sich sonst in einem Strom bewegen, ja auseinander hervorgehen. In einer Krise werden plötzlich Scheinwerfer auf Dinge gerichtet, die sonst im Dunkeln liegen. Krisen machen Kleinigkeiten groß und Großartigkeiten klein. Gefeierte Werte hören auf überhaupt Werte zu sein.

Der Blick zurück lässt den gewanderten Weg erkennen, die Pfade im verlöschenden Licht erahnen und die Frage groß werden, wohin der Weg hätte führen sollen, was eigentlich das Ziel war. Die Vergangenheit glänzt nur an der Oberfläche, weil sie sich da sichtbar macht, was aber darunter liegt, bleibt im Verborgenen, Unklaren, ist uns nicht zugänglich. Und doch ist gewiss, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur auseinander hervorgehen können, ein gemeinsames Rad im Zeitenlauf sind.

Das Leben in der Gegenwart ist schmerzhaft, voller Verletzungen, zerplatzten Seifenblasen und irritierenden Botschaften. Nur hie und da gelingt es einem kleinen Sonnenstrahl, sich durch das Dickicht und Gestrüpp zu zwängen. Vor allem aber ändern sich die Bedeutungen der Gegebenheiten ständig. Manchmal denken wir: „Ja, so mache ich es, das ist mein Weg!“ und dann wieder: „Nein, das kann ich nicht, das will ich nicht, ich bin überfordert…“ Die Gegenwart zeigt sich in einem schillernden Farbenspiel, gleich einem Chamäleon, sie wechselt ständig ihre Gestalt.

Und die Zukunft ist wie in Watte gehüllt. Sie zeigt sich nur ungern. Alles ist offen. Mal scheint dieses möglich, dann wieder jenes nötig. Der Blick nach vorne ist verhüllt, die Klänge der Zukunftsmusik sind leise und ohne Brisanz. „Der Weg entsteht unter unseren Füßen, wenn wir ihn gehen.“ Aber gerade das Gehen in die Zukunft ist schwer, wir drücken uns davor, weil wir Angst vor der schwarzen Wand haben, die uns ihre lichte Seite nicht zeigt.

Im Tumult der Krise schwanken die inneren Festpunkte, die uns als Mensch so nötig sind. Und gerade die gilt es wieder zu erlangen, zu erringen, neu aufzubauen, um sich mit ihnen Hand in Hand durch den Tag zu bewegen. Innehalten. Mutig ins Nichts schauen. Fragen ohne Antworten lassen. Mitsegeln auf dem schwankenden Schiff. Weinen, lachen, still sein – was immer der Moment gebietet. Dabeibleiben. Irgendwie.

Eine Prüfung besteht darin, sich der Unwissenheit preiszugeben, ihr Stand zu halten – wie immer sie ausgeht. Prüfer und Prüfling kennen sich nicht. Darum kann ich dir auch nichts raten. Dir keinen Weg weisen. Still und fast sprachlos stehe ich vor dir und weiß kaum etwas zu sagen. Was ich aber kann, weil ich zu deinem Schicksalsnetzwerk dazugehöre, ist, zum Ausdruck bringen, dass ich eine Ahnung davon habe, wie es in dir aussieht, dass du nicht immer weißt, was du denkst, fühlst und willst, aber dir mitteilen, dass ich Vertrauen, die große Hoffnung habe, dass du deinen Weg findest, dass ihr einen Weg findet – auch wenn das abgedroschene Worte sind, die dich vielleicht in diesem Moment noch mehr verzweifeln lassen.

Manchmal überschätzen wir uns im Leben, pokern zu hoch, aber das gehört dazu. Das Leben ist kein Spiel, aber die Spielregeln bestimmen wir doch. Von ganzem Herzen wünsche ich dir, dass deine Kerze dich zum Ausgang des Tunnels führt, dass dich das Licht der Sonne wieder erreicht und Musik in deinem Herzen erklingt. Hilde Domin beschreibt den Weg.
Von Herzen, deine Sophie

Die schwersten Wege

Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich Umdrehen
hilft nicht. Es muß
gegangen sein.

Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tages
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nah
bei deinem Herzen.

Hilde Domin

Freitag, 29. April 2011

Osterfrage - XIII Freitag

Was hat die Auferstehung in dir bewirkt - wie sieht dein Leben jetzt, nach Ostern aus?

Donnerstag, 28. April 2011

Osterfrage XII - Donnerstag

Was hält dich von deinem Weg ab?

Mittwoch, 27. April 2011

Osterfrage XI - Mittwoch

Wohin schaust du, wo willst du hin?

Dienstag, 26. April 2011

Osterfrage X - Dienstag

Was erlebst du, wenn du dich dem Licht zuwendest?

Montag, 25. April 2011

Osterfrage IX - Ostermontag

Welche Keime zeigen sich, was verwandelt sich in dir?

Sonntag, 24. April 2011

Samstag, 23. April 2011

Freitag, 22. April 2011

Osterfrage VI - Karfreitag

Was bist du bereit loszulassen - was stirbt in dir?

Donnerstag, 21. April 2011

Osterfrage V - Gründonnerstag

Was bedeutet dir das letzte Abendmahl - wie offenbart es sich dir?

Mittwoch, 20. April 2011

Osterfrage IV - Mittwoch

Worüber bist du traurig, was macht dir das Leben schwer?

Dienstag, 19. April 2011

Osterfrage III - Dienstag

Wie spricht die Stille in dir, was zeigt sie dir?

Montag, 18. April 2011

Osterfrage II - Montag

Was erzählt dir die Spannung zwischen Licht und Dunkelheit?

Sonntag, 17. April 2011

Osterfrage I - Palmsonntag

Was wirret dir, womit ringst du?

Samstag, 16. April 2011

Ostern - Fragen für die Kar- und Osterwoche

Morgen, am Palmsonntag werde ich wieder beginnen auf diesem Blog Fragen zu stellen, sie werden sich auf das nächste christliche Fest beziehen, nämlich auf Ostern. (Wer Weihnachten nicht dabei war, kann die Fragen und Beiträge nachlesen, einfach auf das Label „Weihnachten“ klicken.) Die Weihnachtsfragen waren Nachtfragen, ich habe sie am Nachmittag gestellt, wir konnten sie der Nacht anbieten und am Morgen eine Gabe entgegennehmen.

Dieses Mal werden es Tagesfragen sein, die sich auf das Bewusstsein richten, Wachheit und Klarheit werden angesprochen. Ich werde die Fragen jeden Morgen in der Frühe stellen. Da sich Weihnachten und Ostern spiegeln, so wie Geburt und Tod, stehen sich auch Nacht und Tag gegenüber. Diese Polarität wird sich auch in den Fragen ausdrücken.

Nicht eine Geburt, nein, Tod und Auferstehung stehen an. Das sind heftige Themen, die sich nur ertragen lassen, weil es draußen Frühling ist. Die Natur zeigt sich von ihrer starken Seite. Nach dem kahlen, finsteren, trockenen Winter, sprosst, grünt und blüht es überall – und jedes Jahr ist das aufs Neue ein Wunder. Die Natur zeigt sich von einer prächtigen Seite, Tag für Tag wird es wärmer und einladender draußen zu sein – nach dem kalten, dunklen Winter.

Wer in den letzten Wochen ein wenig darauf geachtet hat, konnte sehen, wie sich die Keimblätter plötzlich Tag für Tag mehr gezeigt haben, welche Kraft geschlummert hat und sich nun sanft, zart und unerbittlich einen Platz im Licht sucht und sich so unseren Augen präsentiert. Die Kräfte haben im Tod geschlummert – nichts als altes und kahles Gestrüpp war mehr zu sehen – um jetzt wieder aufzustehen, neu zu werden, sich von ihrer lebendigen Seite zu zeigen und in die Blütenbildung überzugehen.

Schon Goethe hat diesen unglaublichen Kreislauf beobachtet, in seinen Studien: Die "Metamorphose der Pflanze" beschreibt er das. Er kommt zu dem Schluss, „Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz…“ Und dies Gesetz gilt nicht nur für die Metamorphose der Pflanze, sondern auch für uns Menschen (sowie das Tierreich). Wenn Jesus nach der Wintersonnenwende in der dunklen Zeit geboren wird, liegt die Welt in tiefem Schlummer. Wenn die Natur erwacht und sich dem Licht und der Wärme hingibt, muss Jesus sterben, vom Licht in die Dunkelheit gehen.

Das Licht des Frühlings bringt aber auch seine Schatten mit. Nicht jeder von uns kann dem Erwachen einfach, hingebungs- und vertrauensvoll folgen. Ganz im Gegenteil. Viele Menschen fühlen sich abgeschnitten davon, erleben innerlich die Gegenseite. Gefühle des Getrenntseins, der Verschlossenheit und der Ausgrenzung werden groß. Schmerzen nehmen den Raum ein. T. S. Eliot hat das in seinem Gedicht „The Wast Land“ heftig zum Ausdruck gebracht, hier die ersten Zeilen:

APRIL is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.
Winter kept us warm, covering
Earth in forgetful snow, feeding
A little life with dried tubers.

Wir haben die Möglichkeit dem inneren Sterben und der inneren Auferstehung zu folgen, uns den unerhörten Licht- und Schattenbegebenheiten zu nähern. Seelisch und geistig mitzugehen, zu spüren, zu ahnen – in das große Ganze einzutauchen und als Mensch irgendwie mitzumachen. Ich möchte euch und Sie einladen, meinen Fragen zu folgen und über Kommentare wieder aktiv zu werden. Ich freue mich über Antworten, Gegenfragen, Erzählungen, Zitate, Träume, Gedichte, Hinweise, Erinnerungen…

In diesem Sinne, euch und Ihnen allen eine intensive und frohe Osterzeit!
Sophie Pannitschka

Freitag, 15. April 2011

Stille und Worte. Der rote Regionalzug

Was ansteht, ist die Betrachtung des Umstandes, dass Worte nicht immer unmittelbar in Sätzen zusammenhängen, sondern von Zeit zu Zeit auf der inneren Bühne alleine auftreten. Einzelne Worte, die ein Universum des unerschrockenen Schweigens um sich herum tragen und doch den Zugang zueinander suchen. Was haben Worte und das eigene Lebensgefühl miteinander zu tun?

Farben und Klänge von Worten sind unterschiedlich. Manche sind laut, schreien ihre Buchstabenfolge aus sich heraus, wiederholen sie unaufhörlich, suchen eine Einbettung und irren durch die Grenzenlosigkeit. Manche sind vorsichtig, zart und sanft, zeigen sich nur schamhaft verhüllt und versteckt in einer Ecke, zaghaft am Rand. Die beweglichen Worte wirbeln um die statischen herum, in einem stillen Tanz, der Formen sichtbar macht, aber keinen Festpunkt zulässt.

Als sie die Augen schließt, sieht sie plötzlich eine leere Bühne. Eine Bühne, die eine Einladung beinhaltet: etwas zu zeigen, sichtbar zu machen. Aber da ist nichts. Einfach nichts. Ein Angebot ohne Garantie. Luft, Staub, Licht – sonst nichts. Sie sehnt sich danach, in eine Geschichte aufgenommen zu werden. Teil dessen zu sein, was da vorne auf der Bühne stattfinden könnte. Sie springt. Ohne Gurt und doppelten Boden. Alles oder nichts. Findet sich auf der Bühne wieder. Ist vom Zuschauer zum Akteur geworden.

Es ist still um sie herum. Sie sitzt in ihrem Büro im zweiten Stock. Sie sitzt direkt vor dem Fenster – einem großen Fenster nach Westen. Und sie schaut hinaus. Vor ihr schwankt das dürre Dachgras des Vordachs im Wind, dahinter flirren die heftig grünen Blätter der Bäume durch die Luft. Darüber wölbt sich der blaue, sonnenlichtdurchflutete Himmel. Dürres Dachgras, grüne Blätter, blauer Himmel und alle halbe Stunde durchzieht ein roter Regionalzug das Lichter- und Farbenspiel. Einmal in diese Richtung und einmal in jene. Sie schaut ihm nach.

Sie schaut nach außen und lauscht nach innen. Vor ihr auf dem Tisch steht ein Laptop, ein ganz leises Vibrieren ist zu hören. Sie spürt die Bewegung in ihren Fingern. Lautlos gleitet sie auf ihrem Bürosessel hin und her. Der Teppich verschluckt die lautlosen Geräusche fast gänzlich. Sie hat zu tun. Ihre Finger gleiten schnell über die Tastatur, ein leises Klappern ist zu hören, aber die Buchstaben lassen sich kaum unterscheiden. Sie schaut ihnen erstaunt nach. Sinn entsteht, Welten erscheinen, Konturen werden sichtbar.

Sie denkt nach. Erledigt ihre Aufgaben. Fühlt sich aufgehoben. Spürt den eigenen Atem. Fühlt ihr Herz schlagen. Bewegt die Tasten unter ihren Fingern. Sitzt auf einem weichen Sessel und ihre Füße berühren den Boden. Plötzlich stehen die Worte vor ihr auf, richten sich stolz auf, melden sich zu Wort. Sie präsentieren sich, bieten sich an. Und auf einmal hört, spricht, schreibt und liest sie Worte, die einander die Hände reichen, die eine Melodie erklingen lassen.

Mal fährt der rote Regionalzug in die eine Richtung, mal in die andere. Akteure und Zuschauer gehen aufeinander zu. Beginnen Gespräche miteinander zu führen. Mal auf der Bühne, mal im Zuschauerraum – und manchmal auch außerhalb des Saals. Der Himmel ist noch immer blau, die leere Bühne schwarz – sie aber gewinnt ihre Souveränität zurück und bewegt sich zwischen den inneren und äußeren Dingen des Lebens. Mal mit Worten und mal ohne Worte.

Freitag, 1. April 2011

Leben und Lernen. Wie aber lehrt man?

Lebensprozesse sind Prozesse, die allen Lebewesen zu Grunde liegen und, so lange jemand oder etwas lebt, aktiv sind. Rund um die Uhr. Ein Prozess ist immer ein Geschehen, ein Vorgang und in Bezug auf die Lebensprozesse kann es nicht anders sein, als dass diese Prozesse in Gang sind, aktiv und lebendig agieren. Sonst ist das Lebewesen, wie auch immer es geartet sein mag, krank oder tot. Solange wir leben, körperlich, physisch leben, ist unsere Körperlichkeit von diesen Prozessen durchdrungen und auf sie angewiesen.

Worum geht es mir? Rudolf Steiner hat die sieben physischen Lebensprozesse in einem Vortrag (Das Rätsel des Menschen) dargestellt. Kurz und knapp. Aber sie leuchten ein, diese Prozesse, deshalb ist es nicht notwendig, viele Worte darum zu machen. Was sich allerdings in der Tiefe in ihnen verbirgt, ist ein Geheimnis, ein Mysterium dem ich nicht auf der Spur bin. Beschreiben kann ich aber die Prozesse und ihre Übertragungsmöglichkeiten über die physische Ebene hinaus:

An erster Stelle steht die „Atmung“. Die Atmung durchzieht unser Leben von der Geburt bis zum Tod – es ist das erste und das letzte, was wir tun. Unser ganzes Leben ist von Atmung durchzogen, einer Ein- und Ausatmung ¬– Tag und Nacht, bewusst oder unbewusst, schneller oder langsamer, immer atmen wir.

Der zweite Lebensprozess, den Steiner beschreibt, ist die „Wärmung“. Die Erwärmung. Wenn wir nicht ungefähr, und es geht dabei um sehr kleine Einheiten, unsere normale Körpertemperatur von etwa 37°C haben, werden wir krank. Zu warm oder zu kalt geht nicht, jedes Lebewesen hat seine spezifische Temperatur. Auch die ausgewogene Wärme gehört zur physischen Existenz in einem Körper.

Dann kommt die „Ernährung“. Immer wieder brauchen wir neue Nahrung, die unseren Körper beschäftigt und ihn erhält. Es scheint ja Menschen zu geben, die sich von Lichtnahrung ernähren, aber das sind doch die wenigsten, die meisten von uns müssen regelmäßig essen und trinken um zu überleben. Auf geheimnisvolle Art und Weise verwandelt sich ein Stück Kartoffel zu dem, was wir unseren Körper nennen.

Der vierte Prozess ist die „Absonderung“. Wenn es sie nicht gäbe, würden wir vergiften. All das, was der Körper nicht, oder nicht mehr braucht, wird ausgeschieden. Die gesamte Verdauung ist ein komplizierter, geheimnisvoller und lebenserhaltender Vorgang. Und auch in diesem Bereich braucht es ein sensibles Gleichgewicht zwischen dem, was bleibt und verwandelt wird und dem, was gehen muss.

Der fünfte Lebensprozess ist die „Erhaltung“. Ein Prozess, der uns am Leben erhält, uns immer wieder erneuert und uns zum Beispiel durch Müdigkeit anzeigt, wenn es notwendig ist, sich zur Ruhe zu legen, um „erhalten“ zu bleiben, um uns zu erneuern, Lebenskräfte wieder zum Erwachen anzuregen.

Der sechste Prozess ist das „Wachstum“. Obgleich wir nach dem 21. Lebensjahr nicht weiter in die Höhe wachsen, ist doch weiterhin eine Ausdehnung in verschiedene Richtungen möglich. In der Kindheit wachsen wir in die Höhe, im Alter werden wir kleiner, Haare und Nägel wachsen sogar über den Tod hinaus.

Und der siebte Lebensprozess ist die „Reproduktion“. Ohne sie würde die Menschheit aussterben. Fortpflanzung ist möglich und nötig – und ein großes Wunder.

Diese sieben Lebensprozesse begleiten uns tagtäglich auf der physischen Ebene durch unser Leben. Etwa bis zum 7. Lebensjahr haben sie, körperlich gesehen, konstituierenden Charakter. Danach werden diese Kräfte und Prozesse etwas freier, obgleich sie weiterhin aktiv sind. Etwa ab dem 21. Lebensjahr haben wir körperlich eine Reife erreicht, die sich nicht mehr grundlegend ändert – bis auf die Abbauprozesse, die irgendwann einsetzen.

Was ist nun mit diesen Kräften der Lebensprozesse während unseres Erwachsenenalters möglich, wenn wir sie nicht mehr so stark für den körperlichen Aufbau benötigen, wenn sich ein Rhythmus gebildet hat, der uns trägt?

Coenraad van Houten hat sich die Frage gestellt, wie Erwachsene eigentlich – möglicherweise im Unterschied zu Kindern und Jugendlichen – lernen. Wie funktioniert das? Was brauchen wir als erwachsene Menschen, um in nachhaltige Lernprozesse einzusteigen, wenn „Lernen“ bedeutet, dass wir uns verändern? Aus den sieben Lebensprozessen hat er die sieben Lernprozesse für den erwachsenen Menschen transformiert:

Aus dem Lebensprozess der Atmung wird im Lernprozess die „Wahrnehmung“. Für jede Art des Lernens ist es notwendig, zunächst einmal ganz frei das wahrzunehmen, worum „es geht“ – was es zu lernen gilt. Den zu betrachtenden Gegenstand anzuschauen, hinzuhören, zu berühren, zu betrachten. Diese erste Wahrnehmung braucht Offenheit, braucht einen Freiraum, in dem sich noch keine Urteile bilden (was ja oft passiert…).

Im zweiten Prozess wird aus der physischen Erwärmung die seelische Erwärmung, die Annäherung, eine erste zarte „Verbindung“. Ein gefühlsmäßiges Darauf-zu-Gehen, ein Einlassen auf den Gegenstand, das Gegenüber. Ohne eine Wärme für das, was wir lernen wollen, bleibt der Prozess im wahrsten Sinne seiner Bedeutung kalt.

Im dritten Prozess, der Ernährung, setzt im Lernprozess dann ein „Verarbeiten“, ein „Verdauen“ ein. An dieser Stelle entscheidet sich individuell, wie man mit dem Lernprozess weiter vorgeht. Wo sind die Elemente, an die ich andocken kann, wohin führt mich das, was ich an Inhalten verdaue? Was entsteht aus der Verdauung?

Der Lebensprozess der Absonderung transformiert sich im Lernprozess in einen Schritt der „Individualisierung“. Was nehme ich, höchstpersönlich und individuell, weiter mit, was ist für mich die Essenz, an der ich weiterarbeite? Alle sieben Schritte werden persönlich und individuell gemacht, aber der vierte Prozess, der mittlere Schritt, zeigt den individuellen Umgang in besonderem Maße. Jeder von uns wird an dieser Stelle etwas anderes mitnehmen.

Die Essenz, die im vorangegangenen Schritt individualisiert wurde, muss nun im fünften Prozess erhalten werden. Die „Übung“ setzt ein. Das, was wir errungen haben, will erhalten und getragen werden – und auch dies geschieht nicht von alleine, sondern nur dann, wenn wir uns darum bemühen.

Der sechste Lernprozess ist das Wachstum, die „Pflege“ dessen, was entstanden ist. Ohne die „Sorge“ um das, was wir gelernt, errungen haben, geht es nicht. Die Dinge wollen gepflegt werden, sonst verflüchtigen sie sich. (Wenn ich eine Sprache lerne ist es evident, dass ich meine Kenntnisse nutzen – pflegen! - muss, sonst verlerne ich alles wieder…)

Und im siebten Schritt, der Reproduktion im Lebensprozess, steht im Lernprozess die „Kreativität“, die Möglichkeit etwas Neues zu erschaffen. Eigenständig über das hinaus zu gehen, womit ich angefangen habe. Aus dem, was ich „gelernt“ habe, was ich durch die sieben Prozesse entwickelt und in mir getragen habe entsteht nun etwas, was aus mir hervorgeht.

Im Gegensatz zu den Lebensprozessen, die sich „von alleine“ abspielen, müssen, können und dürfen wir die Lernprozesse selbst und bewusst steuern.

Meine Forschungsfrage ist, was sich aus den Lebens- und Lernprozessen für LEHR-Prozesse ableiten lässt. Wie „lehren“ wir in der Erwachsenenbildung, damit die Teilnehmer oder die „Lernenden“ in diese Prozesse so einsteigen können, dass sie ihre Prozesse eigenständig und individuell gestalten können. Wie „lehren“ wir, wenn es so etwas überhaupt gibt, damit Lernende zu ihren eigenen Lehrenden werden? (Und was machen die Lehrenden dann?)