Sonntag, 26. September 2010

Ein Bote aus dem Reich des Vergessens. Zum 70. Todestag von Walter Benjamin

Heute vor siebzig Jahren hat Walter Benjamin in Portbou, an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, seinem Leben mit Morphium (das er zuvor noch mit Arthur Koestler in einem Internierungslager in Südfrankreich geteilt hatte, damit jeder für den Notfall genug hätte), ein Ende gemacht. (Koestler setzte es nicht ein.) Obwohl Benjamin ein Durchreisevisum für Spanien hatte, um in die USA auszureisen, ließen ihn die Grenzer in den Pyrenäen nicht passieren, da er ein „Staatenloser“ war. Um als Jude den Nazis nicht ausgeliefert zu werden, wählte er am 26.9.1940 den Weg in den Himmel – dorthin, woher sein Engelbild „Angelus novus“ von Paul Klee auf die Erde gestürzt war, als er auf die Geschichte des Landes blickte – und das Benjamin zeitlebens begleitete.

Walter Benjamin ist nur achtundvierzig Jahre alt geworden. Seine Lebensorte waren vornehmlich Berlin – dort ist er 1892 geboren worden –, die Schweiz – dort hat er die Kriegsjahre des ersten Weltkriegs verbracht und studiert – und Paris – das ihm ab den 30er Jahren Exil bot. Von Paris war er fasziniert. Bis zuletzt hat er am „Passagenwerk“ geschrieben, an einer "Urgeschichte der Moderne". Benjamin war ein eigensinniger Intellektueller zwischen den Weltkriegen, bewegte sich zwischen Tradition und Moderne, ganz dem deutschen Geist verschrieben. Erst die Postmoderne hat seine Werke entdeckt. Es waren die Freunde, die seine Manuskripte veröffentlichten.

Seitdem ist es zu einer wahren Flut an Literatur von und über ihn gekommen. Das Gesamtwerk wurde bei Suhrkamp publiziert, Benjamin selber hat zu Lebzeiten nur ganz wenig veröffentlichen können. Die Freunde von damals, Gershom Scholem, Theodor Adorno, Gretel Karplus, Bert Brecht, Hannah Arend, haben seine Manuskripte, die er ihnen zwecks Kommentierung zusandte, verwahrt und dann der Öffentlichkeit übergeben. Sie waren sein Archiv, denn er hatte viele Jahre lang kein Zuhause mehr. Er war ein Reisender, ein Suchender, ein Mann, der überleben wollte und einen Ort dafür brauchte. Benjamin war mit einer Aktentasche unterwegs.

David Wittenberg hat einen Film gedreht: „Geschichten einer Freundschaft. Walter Benjamin zum Gedächtnis.“ Er läuft zurzeit auf arte (http://videos.arte.tv/de/videos/geschichten_der_freundschaft-3423058.html). Dieser Film zeigt auf hohem Niveau das Dilemma, in dem Benjamin steckte. Er beschwört die Zeit von damals herauf. Mit eindringlichen Bildern aus Berlin, der Schweiz und Paris. Oft sind es stille Bilder, fotografische Filmaufnahmen, die mich als Zuschauerin durch ihre Stille bewegen und aufwühlen. In einem Spannungsverhältnis dazu werden bewegte Bilder gezeigt, fahrende Züge, Autos oder Schiffe – und sie machen still, betroffen. Sie machen die Stille erfahrbar, die eine Frage braucht, und die Bewegung, die ins Unausweichliche führt.

Bilder von damals wechseln sich mit Bildern von heute ab. Eine Zeitreise durch Orte mit ungewöhnlichen Perspektiven. Die unsichtbare Erzählstimme kommentiert, zitiert, stellt dar und mahnt mit leisen Worten. Ein anspruchsvoller Film, der an einen Mann erinnert, der heute bekannter ist als je zuvor. Der Film macht aufs Neue betroffen, weil die Zeitereignisse überhand nehmen und das Individuelle keine Berechtigung mehr zu haben scheint.

Walter Benjamin hatte viele Freunde, er war zu Lebzeiten nicht berühmt – das geschah erst posthum – aber bekannt, er war ein Mann des intellektuellen Lebens, der Auseinandersetzung. Er war ein Mann seiner Zeit, der sich einen Weg zwischen Vergangenheit und Zukunft zu bahnen versuchte. Und dabei, auch er, ein Gefangener. Er hat sich öffentlich eingebracht, solange das ging, und ist denkerisch immer eigene Wege gegangen. Benjamin war jemand, der die Dinge sich hat aussprechen lassen, sie neu durchdacht hat, ihnen zu neuem Licht verholfen hat.

Sein Freund Gershom Scholem ist schon in den zwanziger Jahren nach Palästina ausgewandert, und hat Benjamin wieder und wieder nicht nur eingeladen, sondern auch dringend gebeten zu kommen, sich in Sicherheit zu bringen. Aber Benjamin kam nicht, er war in diesen Dingen selten unbeholfen und die Tragödie nahm ihren Lauf. Benjamins Ort war Paris – und dort durfte er nicht bleiben.

Die Stellung, die seine intellektuelle Leistung ihm auf literarischer Ebene gebührte, wurde ihm zu Lebzeiten versagt, seine Habilitationsschrift abgelehnt. Was nützt einem Menschen der große Nachruhm, wenn er sich aus Angst vor seinen Zeitgenossen das Leben nehmen „muss“ um nicht von ihnen umgebracht zu werden. Sein Grab in Portbou verschwand nach einigen Jahren, der Autor drohte in das Meer der Unbekannten zu versinken. Heute aber ist der Ort zu einer intellektuellen Pilgerstätte geworden, seine Werke sind weithin bekannt.

Damals, in den Kriegswirren, waren es die persönlichen Freunde, die ihn und seine Schriften wie in einem Archiv in sich trugen. Das Schicksalsnetzwerk hat nach seinem tragischen Tod einen Toten mit seiner Aura zu neuem Leben erweckt. Zumindest auf literarischer Ebene. Durch Anteilnahme, Freundschaft, Wissen und Achtung. Benjamin ist mit seinen Worten ein Bote aus dem Reich des Vergessens, und ruft dazu auf einander wahrzunehmen. „Das wahre Maß des Lebens ist Erinnerung“ – sagte Benjamin schon, als er in Paris Proust übersetzt hat. Der Film von Wittenberg macht Erinnerung aufs Neue möglich, macht Zukunft nötig.

Sonntag, 19. September 2010

Identitätsverleugnung. Lügen auf Deutsch

Der warme Sommermorgen wurde von stillen Sonnenstrahlen umringt. Die prächtigen Gebäude machten weiterhin sichtbar, dass sie zwar noch stünden, aber einer liebevollen Restaurierung bedürften. Die Zeit ist stehengeblieben. Hier und da fällt ein Stück Putz von einer Fassade ab, Vögel landen auf dem Fußweg und picken etwas auf, Mülltonnen stinken vor sich hin. Das Licht mahnt Vergangenes an.

Vor siebzig Jahren stand die Stadt in Feindesland. St. Petersburg. Erbitterte Kämpfe brachten die Menschen zu Fall. Leid, Angst, Elend und Bitterkeit beherrschte die Menschen. Der Tod wütete überall. Die Deutschen waren es, die den Krieg anzettelten. Und sich später schuldig bekannten. Gelitten haben alle.

In jedem Geschichtsunterricht werden die verwirrenden Fakten besprochen, die verworrene Lage klargestellt und die Verantwortung deutlich gemacht. Es dauerte eine Weile, bis sich die Deutschen wieder zeigen konnten, bis sie zu einer – ihrer? – Identität zurückfanden. Bis sie wieder locker bekennen konnten Deutsche zu sein. Trotz der historischen Schuld.

Anna ist lange nach dem Krieg geboren worden. In aufgeklärtem Elternhause aufgewachsen. Sie läuft die alte Straße entlang. Am Sonntagmorgen, im stillen Sonnenschein, mit den übel riechenden Mülltonnen auf den Bürgersteigen. Sie sucht ein Haus. Obgleich es auch in ihrer Familie Opfer, Entbehrung und Leid gab – die Heimat musste verlassen werden, Grund und Besitz gingen verloren und es gab Tote zu beklagen – Nazis kannte sie nur aus Erzählungen, aus der Geschichtsbetrachtung eben.

Manchmal fragt sich Anna, warum sie sich in Deutschland inkarniert hat, warum sie eigentlich Deutsche sei. Da sie weder Schmidt, Schulze, noch Müller oder Meyer hieß, lud ihr Nachname oft dazu ein, sie für eine „Ausländerin“ zu halten. Wo sie herkäme, ob sie Deutsch verstünde oder sogar spräche… diese Fragen und Annahmen kannte sie. Und das hinterließ jedes Mal eine tiefe Verwirrung in ihr. In diesen Momenten fühlte sie sich sehr deutsch. Und zugleich in Frage gestellt.

Anna läuft betrachtenden Schrittes die Straße entlang. In St. Petersburg. Sie ist eine Touristin. Eine interessierte Mitbürgerin. Fühlt sich als verantwortungsvoller Mitmensch im 21. Jahrhundert. Sie sucht das Besatzungsmuseum. Auch dies: ein dunkles Kapitel der Geschichte. Die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg die Stadt 900 Tage belagert. Ausgehungert. Entsetzliches Leid ist damals geschehen.

Das Museum ist von außen kaum zu erkennen. Auch hier: bröckelnde Fassaden, eine vernachlässigte Gegend. Aber die Sonne scheint warm auf alles herab. Das Schild ist klein und nur in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Wie bekannt ist es eigentlich, dass es eine Belagerung der Deutschen gab, und dass es heute dieses Museum gibt? Zukunft braucht Erinnerung.

Anna tritt mit ihrem Begleiter in den Eingang des Museums. Alles ist hier vollgestellt. Die Luft ist trocken, muffig und alt. Bruchstücke von Bomben, Granaten, Panzern und Gewehren bilden den Empfang. Ob das nun russische oder deutsche Geschütze sind, lässt sich auf die Schnelle nicht feststellen. Auf den riesigen Bildern aber, die die Wände zieren, lassen sich Generäle der Roten Armee erkennen. Der starke Russe ist deutlich präsent.

Die beklemmende und zugleich verstaubte Atmosphäre wird von einer munteren Russin durchbrochen. Sie kommt strahlend auf Anna und ihren ebenfalls deutschen Begleiter zu. Sie spricht Russisch, Deutsch und Englisch zugleich. Ein Kauderwelsch, von dem sich nicht alles, aber doch einiges verstehen lässt. Anna begreift, dass die Russin selber Zeugin der Belagerung war. Ein hungerndes, verängstigtes, verlassenes Kind damals. Sie hat überlebt. Und will nun zeigen was damals war.

Plötzlich fragt die Russin, ob die beiden aus Kanada, Amerika oder England seien. Und Anna antwortet blitzschnell, dass sie Engländer seien…

Was ist in diesem Moment passiert, in dem die Vergangenheit plötzlich zur Gegenwart wurde? Beklemmende Betroffenheit überhandgenommen hat. Hat sich Anna mit der Schuld der vorangegangenen Generationen identifiziert – und gleichzeitig mit der Last dieser Schuld nicht mehr gerade stehen können? Warum verleugnet sie sich – so plötzlich? Welche Identität präsentiert sie als Teil deutscher Geschichte?

Neulich hat mir eine Freundin, die vornehmlich in der französischen und englischen Sprache lebt, mit mir aber Deutsch spricht, gesagt, dass man auf Deutsch nicht lügen könne, weder grundlos noch galant, dass diese Sprache auf einer Wahrhaftigkeit bestünde, die es nicht möglich mache – ganz anders offensichtlich als im Französischen oder Englischen – etwas zu sagen, was nicht stimme. Sie begründete das mit der ehrlichen und differenzierten Begrifflichkeit, der nuancierten Welt der deutschen Wörter.

Anna ist verwirrt. Sie ist Deutsche. Und das ganz ohne Probleme. In St. Petersburg aber, in einem Museum über die Belagerung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, spricht innerhalb von Zehntelsekunden eine Stimme in ihr, die ihre Herkunft verleugnet. Geschah das aus Takt der Russin gegenüber? Oder steckt etwas anderes dahinter?

Wie geht man als Engländer durch diese Welt mit ihrer Geschichte, als Russe, Holländer oder Amerikaner? Wie viel unserer nationalen Vergangenheit tragen wir unsichtbar auf unseren Schultern? In wie fern repräsentieren wir heute, im Zeitalter der Globalisierung, Nationalität? Deutsch zu sein kann bedeuten, aufrichtig mit Schuld und Lüge umzugehen – es schließt aber nicht aus, sich schuldig zu machen oder zu lügen.

Sonntag, 12. September 2010

Aufzeichnungen. Für die Geburt eines Text-Gewebes

Kreuzungspunkte:
Buchmesse Stand AX98, Autohaus Müller, Pastabar di Cornali, Luftschutzkeller, Bushaltestelle, Germanistisches Seminar, Ponte Veccio, Wald.

Zeit:
Hier und Jetzt. Immer. Damals. Dann. Bereits vergangen und noch im Kommen, Kreuzungspunkt Herz, von Inkarnation zu Inkarnation.

Bezugsrahmen:
Sachliche Dokumentation, Wünsche, Hoffnungen, Phantasien, „das“ Leben. Du und ich.

MitspielerInnen:
LeserIn, FahrkartenverkäuferIn, Kafka, zahnlose Großmutter, Benjamin Walter, Politologinnen, Servicepersonal, Hauptfigur, Nebenfigur, Taxifahrer, Gesellschaft, Unterwelt.

Kreuzungslinien in Raum und Zeit:
1958: Rom, nachts 4 Uhr, Flughafenterminal A
1985: Ruhr-Universität Bochum, dienstags 14-16 Uhr
2015: St. Petersburg, Platz am Ehernen Reiter
1907: Somewhere
1892: Berlin-Charlottenburg
XXX: XXX

Verschränkungen:
Metrolinien, Telefonverbindungen, Reisen, Inspirationen, Gefängnis in sich selbst, Suche, Platons Ideenwelt.

Nicht vorkommende Worte:
Blackberry, Donaudampfschiffskapitän, Projektionsfläche, Wahrheit, Whisky, Pferde und Fenster, Schicksal.

Perspektive:
Wechselnd. Das Netzwerk sichtbar machend. Ich-Perspektive mit unterschiedlichen Ausgangspunkten, Vogelperspektive auf das Geschehen, innen und außen, subjektiv und objektiv.

Rahmen:
Anfang und Ende im Jetzt, randlose, nicht fest umrissene Zukunft, Rückblende in Vergangenes je nach Befinden und Größe der tragenden Herzen.

Wiederkehrendes:
Rothko Bilder, Blogspots, Zarengrab in der St. Nicolaus Kapelle, ein goldener Füller, Wortschubladen, Verwirrungen, Sehnsüchte und Paragraphen.

Klappentext:
Die unverhüllte Wirklichkeit, von der niemand weiß, wo sie sich versteckt, trifft auf Vorstellungen und Ideale in konkreten Figuren, die deutlich machen, was es heißt in einer Verschränkung mit Raum und Zeit zu leben, zu lieben, zu scheitern und zu bangen. Das Unsichtbare wird sichtbar, das scheinbar Nebensächliche avanciert zum Wesentlichen.
Ein Roman voller Überraschungen, berührenden Sequenzen und einer taktvollen Analyse der westlichen Gesellschaft.

Sonntag, 5. September 2010

Begegnung. Die deutsche Sprache braucht ein neues Wort

Heute früh war ich auf dem Markt. Dort bin ich einigen Marktfrauen „begegnet“. Ich bestellte mein Obst und Gemüse, erhielt es, bezahlte es, bedankte mich und ging davon. Ich war an drei oder vier verschiedenen Ständen. Im Nachhinein weiß ich kaum mehr, wer mich eigentlich bedient hat. Mein Markteinkauf war ein funktionales Geschehen. Ich wollte schnell wieder nach Hause – um einen Blog-Text zu schreiben – und habe mich auf die menschlichen Begegnungen nur marginal eingelassen.

Zuhause am Laptop, mit einer Tasse gutem Espresso, entscheide ich mich, etwas über Begegnung zu schreiben – darüber, was ich heute früh auf dem Markt verpasst habe.

Heutzutage wird in vielen gesellschaftlichen Einrichtungen, in denen Menschen zusammenarbeiten, d.h. sich „über den Weg laufen“ und etwas miteinander zu tun haben, weil sie zusammen arbeiten, wie z.B. in Universitäten, Schulen, Kindergärten, Betrieben, Kultureinrichtungen, Firmen etc. danach gerufen, dass es mehr zwischenmenschliche Begegnung geben müsse, damit die gegenseitigen Verabredungen, die spezifischen Interaktionen und die jeweiligen Abläufe „besser funktionieren“. Um miteinander zu arbeiten oder zu leben, miteinander auszukommen und „etwas auf die Beine zu stellen“ braucht es Begegnung.

Begegnung, ist also das große Wort, das im sozialen, zwischenmenschlichen Leben Heilung verspricht. Gegen Einsamkeit, gegen Funktionalisierungen, gegen zermürbende Diskussionen, gegen Unverständnis, Streit und einen riesigen Berg an Verordnungen, Verträgen, Gesetzen und Verabredungen – die alle einmal aus guten Gründen (von Menschen!) erschaffen wurden. Gerade der menschlichen Willkür wollte man entgegenwirken. „Verträge“ gibt es für den Fall, in dem man sich nicht mehr „verträgt“.

(Der Bundespräsident prüft mit seinem Stab zurzeit, ob er dem Gesuch, einen Bundesbankmitarbeiter vorzeitig aus dem Amt zu entlassen, entsprechen kann. Dabei wird eine Begegnung – ein in die Augen schauen, ein Zuhören, ein Verstehen und ein im Gespräch-miteinander-sein und sich Austauschen – ausdrücklich vermieden, dabei geht es nur noch um die Rechtsgrundlage, Verträge und Gesetze also. Nachsatz: Einen Tag später ist zu hören, dass der Betroffene, falls das Verfahren tatsächlich eingeleitet wird, dringend um eine Anhörung bittet.)

All die Papiere und Verabredungen sind genau dafür entstanden, dass man sich nicht mehr begegnen muss. Denn eine Begegnung birgt natürlich auch eine Gefahr. Schon im (deutschen) Wort steckt der „Gegner“. Was ist also Begegnung, nach der wir uns auf der einen Seite sehnen und auf der anderen Seite Angst davor haben?

Wenn ich auf mein Leben schaue, dann sehe ich viele Menschen, denen ich auf angenehme oder unangenehme Weise begegnet bin. Ich schaue auf Begegnungen, die wieder verblasst sind, und auf Begegnungen, die einen reichen und blühenden Platz in meinem Leben haben. Und ich vermute gleichzeitig, dass ich an vielen oder vielem vorbeigegangen bin. Denn auch Gedanken, Impulsen, Landschaften, Städten und vielem mehr kann man begegnen – oder eben „nicht begegnen“.

Begegnung findet auf horizontaler und vertikaler Ebene statt, Begegnung beinhaltet einen ganzen Kosmos an Möglichkeiten. Etwas gesehen, jemanden getroffen zu haben, bedeutet nicht unbedingt, dass eine „echte“ Begegnung stattgefunden hat, etwas Wesentliches geschehen ist. Auf der anderen Seite setzt jede Freundschaft – auch jede Feindschaft – eine Begegnung voraus. Ohne Begegnung passiert - menschlich gesehen - nichts.

Was macht „echte“ Begegnung aus? Mir scheint es dafür wichtig zu sein, dass die Betroffenen überhaupt zu einer Begegnung bereit sind. Das bedeutet, dass sie in dem Moment ein Verhältnis zu sich selber haben, sich so akzeptieren, wie sie in dem Moment sind, um bei sich selbst zu sein. Des Weiteren braucht es eine Akzeptanz des Anderen. Und das ist schon gar nicht unbedingt so einfach. Nehme ich mein Gegenüber mit all seinen Vorzügen, Talenten, Wünschen, Hoffnungen, Schwächen und blinden Flecken wirklich an, sage ich JA zu ihm?

Die jeweilige Akzeptanz (von mir selber und dem Anderen) scheint mir eine Voraussetzung zu sein. Damit es aber zu einem Begegnungsmoment kommen kann, ist ein offener Raum nötig. Ein Moment, in dem etwas entstehen kann. Ohne Vorurteil, ohne Zielvorgabe, ohne Druck. Ein ungeschützter Moment, der frei und offen ist – in dem etwas Unvorhergesehenes entstehen und geschehen kann.

Und diesem Moment weichen viele Menschen aus – weil er eben unvorhersehbar, nicht steuerbar ist. Es ist der Moment, in dem der Freund zum Feind werden kann, der Feind zum Freund – um zwei heftige Extreme zu nennen. Denn kann man natürlich auch einem Gegner begegnen – nicht unbedeutend ist die Tatsache, dass sich zum Beispiel in einem mittelalterlichen Turnier, in einem ritterlichen Kampf die beiden Kontrahenten „echt“ begegnen.

Aber das Wunder ist an dieser Stelle genauso möglich. Das Gefühl des Verstanden-Werdens kann entstehen, ein neuer Impuls kann sich zeigen, eine neue Sicht auf den Anderen wird möglich, ein Geistesblitz kann eintreten, Dankbarkeit und Liebe können sich verbreiten – Begegnung kann bereichern und erfüllen. Begegnung ist ein Mysterium.

Begegnung ist ein Moment, in dem Veränderung möglich ist. Meine eigene und die des Anderen. Die holländische Sprache drückt den Begegnungs-Vorgang meines Erachtens passender aus. Begegnung heißt dort „ontmoeten - es muss nicht“ – aber es ist immer schön, wenn es passiert.