Sonntag, 29. August 2010

Das Leben ist eine Kränkung aus der Literatur erwächst

Bücher lesen wir linear – meistens – von A nach B, von vorne nach hinten, vom Anfang bis zum Ende – weil Schrift bei uns linear geschrieben wird. Von links nach rechts. Auch Zeit verläuft linear. Gestern, heute, morgen. Das Leben aber, so wie auch die Geschichten, die mitunter in einem Buch erzählt werden, verläuft alles andere als linear. Zeit ist elastisch – manchmal vergeht sie wie im Flug, manchmal im Schneckentempo. Und die Bedeutung von Ereignissen ist gar nicht in Kategorien einzuordnen. Das führt zu der Frage, wie Geschichten erzählt, Bücher geschrieben werden könnten, die sich nicht mehr ausschließlich an Linearität orientieren?

Einerseits ist der Mensch das Medium für die Sprache, ohne ihn gäbe es keine Worte. Durch ihn wird Sprache lebendig und ausdrucksstark. Die Sprache ermöglicht dem Menschen andererseits über sich selber hinauszukommen, ja, überhaupt aus sich herauszukommen. Damit er kommunizieren kann. Worte sind für alle da. Sie kosten nichts. Jeder Mensch ist frei, alle Worte die er kennt zu benutzen, so oft er will und in welchem Kontext er will – Worte müssen nicht bezahlt werden, Worte stellen sich frei zur Verfügung, sie schenken sich.

Der Mensch, als Wesen zwischen Himmel und Erde, zwischen Materie und Geist, muss also ständig Entscheidungen treffen, was er wie bezeichnet, wenn er seine Gedanken, Erlebnisse, Empfindungen in Worte fasst. Was drückt er aber aus, wenn er ein Erlebnis des gestrigen Tages in Worte fasst und jemandem erzählt? Kann Sprache tatsächlich Erfahrung transportieren? Können Geschehnisse in Sprache übersetzt werden? Können Gefühle über Sprache ausgedrückt werden?

Aus der mündlichen Sprache ist die schriftliche hervorgegangen. Und obgleich sich Sprache wandelt, können wir heute noch Texte verstehen, die vor hunderten von Jahren geschrieben wurden. Die Protagonisten dieser Erzählungen, die Schreiber und Adressaten sind längst verstorben – wir aber lesen ihre Geschichten, Tagebücher oder Briefwechsel. Wir staunen über sie, weinen mit ihnen, freuen uns für sie und stehen auch oft schlicht und ergreifend vor Rätseln, die sich uns nicht offenbaren. Manchmal erzählt uns die Literatur aber auch etwas über unser eigenes Leben.

Ich hatte einmal einen Traum, in dem sich Raum und Zeit aufgelöst haben. Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft trafen sich in mir in einem Moment der Gegenwart. Ich konnte den Zeitstrom fühlen und hörte Worte. Vergangene und zukünftige. Sie wurden aber nicht in meiner Sprache gesprochen – ich ahnte nur, dass sie von dem Zeitenlauf handelten, der nicht linear, sondern eher netzartig verläuft. Obwohl ich die Worte nicht „verstand“, lösten sie in mir das Gefühl aus, dass die Sprache das einzige Mittel ist, um als Mensch, der im Leben in seinem Körper gefesselt ist, das Gefühl der räumlichen Weite wiederzuerlangen und der zeitlichen Enge und Gebundenheit zu entfliehen.

Das gesprochene Wort und der Blick (!) entstehen und agieren in der Gegenwart oft nur einen winzigen Moment lang, und können doch Zeit und Raum so durchdringen und gleichzeitig umfangen, dass eine netzartige Verbindung entsteht, die weit über den Moment hinausgeht. Im richtigen Moment, am richtigen Ort. Das Leid, aber auch die Freude, machen sich auf diese Weise selbstständig. Sie werden sprachlich auf die Reise geschickt. Mit dem Wort bewegen wir uns von Mensch zu Mensch, senden Sprache aus und empfangen Worte – begleitet von Gesten, Blicken und zeitgeschichtlichen Ereignissen, denn jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit und seiner Kultur.

In der Literatur wird gerade davon oft berichtet. Und geschriebene Worte sind weitaus geduldiger als die gesprochenen, die so schnell vom Winde verweht werden. Einen Schreibanlass bieten gerade die Momente, in denen etwas nicht im richtigen Moment und nicht am richtigen Ort geschehen ist, in dem Worte, Gesten und Blicke ihr Ziel verfehlt haben – und aus dem das entsteht, was wir gemeinhin die Lebensgeschichte nennen - um nicht zu schreiben das Lebensdrama. Das geschriebene Wort, gute Literatur, speist sich aus Kränkungen des Lebens und schenkt sich damit Raum und Zeit, die über Linearität hinausgeht. Damit ist die Literatur dem Leben weit voraus.

Ich hoffe, dass es einmal Bücher geben wird, die gerade das sichtbar machen. Die sich als Ereignisnetz, als sich verwandelnde Landschaft oder in verschiedenen Zeiten (die mitunter über die irdische Lebensdauer hinausgehen) präsentieren, und die die Bedeutung der Ereignisse auch in ihrer Form sichtbar machen, auch, wenn die Schrift wohl weiterhin linear geschrieben werden muss.

Sonntag, 22. August 2010

Krankheit verändert. Was das Leben mitunter macht

Ich besuche eine Freundin. Sie gehört zu meinem Schicksalsnetzwerk. Die ersten zwanzig Jahre unseres Lebens haben wir miteinander geteilt – die darauf folgenden fünfundzwanzig nicht. Trotzdem sind wir Freundinnen geblieben. Irgendwie. Freundschaft vergeht nicht so einfach, auch wenn man sich nicht sieht. Verbindung bleibt – wenn man sich nicht entzweit. Vor etwa fünfzehn Jahren haben wir uns zuletzt getroffen. Ein paar Telefongespräche haben uns in den folgenden Jahren als Brücke gedient.

Schon lange habe ich vor, sie zu besuchen. Und ich muss gestehen, dass ich viele Gelegenheiten nicht genutzt habe. Jetzt aber ist es soweit. Mir ist ein bisschen bang ums Herz und auch sie musste überlegen, ob ihr mein Besuch nicht zu viel sei – aber wir verabreden uns.

Ohne Titel IV

ist es das, was ich sagen will?
ist es auf diese Weise
wie ich es machen will?
ist morgen der Tag meiner Ziele und wird
heute Nacht
die Ankunft meines Glücks
stattfinden?
Mit leiser Hoffnung am Arbeits-
tisch meiner Gedanken
bewegt sich meine Hand
entsprechend den verschlungenen
Pfaden meines Ichs

Wir sind am Sonntag um 16.00 Uhr verabredet. Da ich die Wegbeschreibung zwar notiert, aber nicht mitgenommen habe, muss ich den Ort suchen, die Adresse habe ich noch halbwegs im Kopf. Es ist ein regnerischer Nachmittag – warm aber dunkel und nass, obwohl es Hochsommer ist. Ich fahre durch ländliches Gebiet, wohlahnend, dass sich das gesuchte Haus nicht im Zentrum eines Ortes befindet, sondern außerhalb. Dort, wo es Wald und Wiesen gibt. Wo nicht zu viel Verkehr vorbeikommt, es keine Geschäfte oder Büros gibt. Das Leben hat sich hier von außen nach innen gestülpt.

Ich werde erwartet. Als ich auf dem Parkplatz ankomme, kommt sie mir entgegen. Was hat das Leben aus ihr gemacht? Ich erkenne sie, natürlich, auch wenn sie sich verändert hat. Was mich durchdringt ist ihre Stimme. Sie ist unverändert. Sie schwingt in meinem Herzen. Sofort. Und bringt Wärme. Meine Freundin lacht mich an. Medikamente können wohl einen Körper beeinflussen – eine Stimme aber nicht.

Ohne Titel III

wenn ich versuche mich zu greifen
bin ich verschwunden
wenn ich versuche mich aufzulösen
bin ich schwerfällig und erdverbunden
ein Bein im Leben, schwebe ich
doch immer über den Wolken


Ich bekomme Tee, Schokolade und den sonntäglichen Kuchen. Wir sprechen über alte Zeiten. Lachen immer wieder miteinander, obwohl die Umgebung so trostlos ist. Schauen uns Fotos an. Ich entdecke mich selber in ihrem Album. Als Kind, als Jugendliche. Wir haben selbstgestrickte Pullover an, unsere ersten coolen Jeans und später Latzhosen. Es gibt Bilder auf denen wir in Frankreich zu sehen sind, oder in Holland auf unserer ersten Reise ohne Eltern. Wir haben zusammen Theater gespielt und gesungen. Auf der Straße. Das Leben lag damals vor uns ausgebreitet.

Aber diese Zeit ist lang vergangen. Während ich meine Kinder groß gezogen, studiert, und mich gesellschaftlich eingebracht habe, umgezogen und gereist bin, hat meine Freundin die Wartezimmer und Sprechzimmer der Psychologen durchwandert. Die Diagnose steht schon lange fest. Zehn Jahre Odyssee, nun das Zimmer in diesem Heim – und auch das schon seit zehn Jahren. Ein selbstgeführtes, eigenständiges Leben bleibt ein Traum, eine Vorstellung, eine Illusion. Der Weg ist zu weit. Die Wünsche von damals bleiben als Wünsche erhalten.

Unsere Gesellschaft kann mit solchen „Fällen“ schlecht umgehen. Menschen werden „untergebracht“. Ihre Herausforderung besteht nun darin, sechs Stunden in der Woche (!) ihr Zimmer zu verlassen. Beschäftigungstherapie. Ansonsten dürfen sie im Rahmen des festgelegten Tagesablaufs in ihrem Zimmer bleiben. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Die Welt hat sich zusammengezogen, das Leben hat einen kleinen Radius.

Der Frühlingspunkt

Verträumt gehen wir
durch die Zimmer
wir rufen sie laut
die Zeit – doch sie will
nicht (kommen)
sie bleibt in der Ecke
liegen, wie ein vertrocknetes
Häufchen Herbstlaub


Ich habe sie besucht, meine Freundin aus Kindertagen. Eine Stunde lang – dann war es ihr genug. Und ich bin froh und betrübt und verwirrt und verstört. Sie gehört zu mir, zu meinem Leben – und das wird auch immer so bleiben, aber ich weiß nicht so gut, wie ich ihre Geschichte in mir integrieren kann. Etwas in mir lehnt sich auf. Muss das alles so sein? Gibt es da keine Möglichkeiten? Was könnte eine Heilung bewirken? Und was zeigt das Schicksal meiner Freundin mir? Was bedeutet so ein Lebenslauf – für sie, für mich, für die ganze Gesellschaft? – wie entsteht er und wohin führt er?

Meine Freundin behält ein Foto meiner drei Kinder – die so alt sind, wie wir damals waren. Sie realisiert ganz zaghaft, dass sie vielleicht in diesem Leben keine eigenen Kinder mehr haben wird… Die Welt ist ungerecht und unverständlich. Und ohne Reinkarnation und Karma kaum zu akzeptieren.

Donnerstag, 12. August 2010

„Dichtung setzt die Kommunikation voraus, die sie stiftet“

August. Stille hat sich über das Land gelegt. Sommerpause. Freunde sind verreist, Handwerksbetriebe machen Betriebsferien, Universitäten, Schulen und Kindergärten stehen still und verlassen da – das Land schweigt. Der Himmel macht mit, entweder regnet es in Strömen oder die Sonne brennt vom Himmel – die Stille bleibt, trocken oder nass, und umhüllt alle Daheimgebliebenen. Es ist fast wie im Winter – wie in der Weihnachtszeit, da hält die Welt auch inne. Aber es ist doch eine ganz andere Stille, die jetzt über dem Land liegt.

Aus dieser warmen Stille heraus zu schreiben bedeutet, ganz nah an meinem eigenen Herzen zu sein. Das Ergebnis ist nicht vorhersagbar. Jetzt am PC zu sitzen und die Finger über die Tastatur tanzen zu lassen heißt, mich vertrauensvoll hinzugeben. Was kommt? Welche Worte finden sich ein? Das alltägliche Funktionieren und Wollen hat aufgehört, messerscharfe Gedanken lassen sich nicht finden, es ist eine unsichtbare aber deutliche Kraft, die mich leitet, den leisen Worten, die sich vorsichtig zeigen, Gehör zu verschaffen. »Hinhören auf die stimmlose Stimme des Herzens heißt, sich selbst nicht belügen« sagt schon der alte Konfuzius.

Gerade für die Stimme des Herzens ist die äußere Stille von Nöten, damit im Inneren etwas erklingen kann. Diese Stille hat auch nichts mit Passivität zu tun, nein, gerade in diesem Bereich ist eine große Wachsamkeit gefragt. Es sind mitunter die unscheinbareren Worte, die sich einstellen, die unbekannteren Bedeutungen, die unerwarteten Zusammenhänge. Wie übersetzt man die „stimmlose Stimme des Herzens“ in allgemeingültige und –verständliche Worte des rauschenden Alltags?

Stille kann warm oder kalt sein – aggressiv oder sanft. Stille kann einladen oder abgrenzen, einsam machen oder eine tiefe Verbindung schaffen. Stille bedeutet, dass Geräusche verschwinden und Bewegungen sich reduzieren. Worte reagieren auf Stille. Und sie suchen die Kommunikation - auch in der Stille. Das geschriebene Wort kennt die Stille gut. Nicht immer erhebt sich eine Stimme, die auf gedruckte Worte reagiert. Das gesprochene Wort ist da anfälliger. Stille erträgt es nur, wenn es durch Anerkennung getragen wird.

Worte setzen sich aus den gleichen Buchstabenkombinationen zusammen, ob sie geschrieben oder gesprochen werden. Schriftdeutsch und gesprochenes Deutsch haben die gleiche Quelle, eine Intention und auch das gleiche Ziel, das menschliche Herz – und doch agieren sie in unterschiedlichen Reichen.

Hilde Domin schreibt etwas, was mich in diesem Zusammenhang sehr beschäftigt:

„Der Mut, den er [der Schreibende] braucht, ist dreierlei Mut:

Der Mut zum Sagen, der der Mut ist, er selbst zu sein, der Mut zur eigenen Identität.

Der Mut zum Benennen, der der Mut ist, die Erfahrung wahrhaftig zu benennen, ihr Zeuge zu sein: das heißt, nicht weg- oder umzulügen, was ja opportun sein könnte.

Der dritte Mut ist der, an die Anrufbarkeit der andern zu glauben. Denn wenn er auch nicht ›für andere‹ im strikten Sinne schreibt, überhaupt nicht ›um zu‹, so müsste er doch verstummen, wäre nicht in ihm der Glaube an den Menschen, ohne den kein Wort geschrieben werden könnte. Noch im negativsten Gedicht ist dieser Glaube, dass das Wort ein Du erreicht, Dichtung setzt die Kommunikation voraus, die sie stiftet.“


(Aus: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen.)

Den Mut zum „Sagen“ und „Benennen“ kenne ich gut, es ist die Kraft, die ich brauche, um zu schreiben – sie kommt aus der Stille. Aber, ob ich genügend Mut aufbringe, damit auch die „Anrufbarkeit“ an meine LeserInnen deutlich wird, kann ich selbst nicht entscheiden. Da dürfen sich, trotz der Sommer-Stille, meine LeserInnen zu Wort melden. Ist das geschriebene Wort, ob es sich nun um ein Gedicht, eine essayistische Miniatur oder sonst einen Text handelt, kommunikativ? Was entsteht aus der Stille?

Mittwoch, 4. August 2010

Irdische Hinterlassenschaften – die Wohnungen von Puschkin und Dostojewski

In eine fremde Stadt zu kommen, heißt für mich zunächst unbekannte Luft zu atmen. Sie ruft mich dazu auf, Anknüpfungspunkte zu suchen um irgendwie anzukommen. Mich einzuordnen. Was klingt und schwingt in der Stadt St. Petersburg? Wofür öffne ich mich, worauf richte ich meine Aufmerksamkeit? Ich weiß also nicht, was ich suche und gehe doch so durch die Stadt, als ob es etwas zu finden gäbe. Neben meiner generellen Sympathie für die Stadt und dem geschichtlichen Interesse seines Auf und Nieder ist es natürlich die Literatur, die mir Tore zur verborgenen Seite der Stadt öffnet.

Wir wohnen in einer Ferienwohnung direkt an der Newa, einige Minuten von der Eremitage entfernt. Die Straße ist vierspurig und Tag und Nacht rattern die Autos darauf, als sei sie eine Autobahn. Tags ist der Fluss voller kleiner Boote, nachts, wenn die Brücken hochgefahren werden, rauschen große Schiffe lautlos an unseren Fenstern vorbei. Das prächtige Haus in dem wir wohnen – nachts mit Lichterketten beleuchtet - ist zweigeteilt. Die Wohnung ist groß, hell und mit Ikea-Möbeln eingerichtet. Und das Treppenhaus ist ein alter, dunkler, schlechter und vor allem dreckiger Albtraum. Eine unvereinbare Zweiteilung, die es noch öfters in der Stadt zu finden gibt.

Wie steht es aber zwischen den St. Petersburger Dichtern und mir? Ich hatte einmal eine beeindruckende Tolstoi-Phase in meinem Leben. Das ist lange her. Er hat zwar in der Nähe, aber gar nicht in der Stadt gelebt. Dostojewski habe ich gelesen. Den großen Roman „Schuld und Sühne“ und kleinere Erzählungen. Ich erinnere mich an jede Menge dunkler und kalter Szenen – während ich warm in meinem Bett lag und innerlich in den Weiten Russlands verschwand. Auch habe ich einen Band mit Gedichten – russisch/deutsch. Puschkin natürlich, den großen Nationaldichter. Ich lese dann aber doch lieber die deutsche Übersetzung, die russischen Buchstaben kann ich zwar zu Worten zusammensetzen, aber in meiner Sprache nicht wiederfinden…

Es gibt eine ganze Menge Petersburger Dichter, die sehr berühmt geworden sind. Puschkin, Anna Achmatowa, Marina Zwetajewna… Sie sind alle längst tot und Literatur lässt sich überall lesen, wenn sie denn übersetzt und erhalten wird. Was gibt es also in ein paar Tagen in Petersburg, der Wiege der großen Revolution, diesbezüglich zu erleben? Was die Zeit überdauert hat sind Häuser. Nicht alle natürlich, aber viele. Und so lassen sich Wohnungen oder Häuser berühmter Menschen besuchen – wenn sie denn von ihrer Nachwelt erkannt worden sind.

Das Wort Wohnung bedeutete in althochdeutscher Zeit „zufrieden sein“ – es ist also ein geschützter Ort, der nicht nur leiblichen Schutz bietet, sondern offenbar auch seelischen. Ein friedlicher Ort. Im Mittelhochdeutschen verändert sich die Bedeutung dann, unser heutiges „Wohnung“ bedeutete damals „Gewohnheit“. Die Wohnung wird also ein Ort, den man gewohnt ist, der zum alltäglichen Leben dazugehört – die seelische Geborgenheit scheint nicht mehr im Vordergrund zu stehen. Trotzdem haben fremde Menschen an so einem Ort eigentlich gar nichts zu suchen.

Im Falle der beiden Herren Dostojewski und Puschkin, deren Wohnungen wir besucht haben, haben wir es auch nicht mehr mit einer einfachen Wohnung zu tun. Nein, diese Wohnungen sind zu Museen avanciert. Und ein Museum ist ursprünglich ein Heiligtum der Musen. Ohne Menschen verfallen Häuser, wenn die Bewohner nicht mehr da sind, muss man sich überlegen, was mit der verlassenen Bausubstanz passiert. In welchem Verhältnis stehen nun aber die Behausungen der Dichter und das heutige Museum?

Ja, dazu kann ich natürlich gar nichts sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals dabei war. Puschkin ist vor fast zweihundert Jahren gestorben. Er war nur 37 Jahre alt und ist an den Verletzungen eines Duells verblichen. Er hat am Ende seines Lebens ganz in der Nähe des Zarenpalastes gelebt – diese Wohnung kann man heute betreten. Und was da nicht alles gezeigt wird. Den handgeschriebenen Mietvertrag, Manuskripte, Alltagsgegenstände, die Tür, durch die er nach der Verletzung getragen wurde, und, und, und.

Es ist schön, so einen irdischen Ort besuchen zu können, weil wir ja selbst alle auf der irdischen Welt leben und wenig andere Möglichkeiten haben. Aber spüren lässt sich in der Wohnung nicht mehr viel. Da scheint doch der Griff nach den literarischen Hinterlassenschaften mehr zu bieten.

Bei Dostojewski ist das etwas anders. Er hat in mindestens zwanzig Wohnungen in Petersburg gelebt, vornehmlich in Eckhäusern, mit Blick auf eine Kirche. Jeder Reiseführer hat ein Kapitel, das den Weg durch Dostojewskis Hinterhöfe beschreibt und ein anderes Petersburg zeigt, als es durch die Zaren repräsentiert wurde. Dostojewski hat Russland mit seinen dunklen Seiten im Ausland sehr bekannt gemacht. Die Wohnung, die wir anschauen, hat eine enigmatische Ausstrahlung.

Denn auch diese letzte Wohnung ist heute natürlich ein Museum – ein Heiligtum also, in dem nichts berührt werden darf – aber überrascht war ich schon, denn die finsteren, verfallenen und dreckigen Hinterhöfe passten mit dieser Wohnung so gar nicht zusammen. Seit Dostojewskis Tod sind 130 Jahre vergangen – wer weiß, was in dieser Zeit alles in und mit diesem Haus geschehen ist. Die Streichholzschachteln aber, die es in dem Souvenirladen zu kaufen gibt, sind mit Bildern eben jener verfallenen Häuser und Höfe geschmückt, die einem das alte Russland näher bringen. Ein Souvenir also, das ich nach Deutschland mitnehme.

Verlassene Wohnungen, in denen seinerzeit so richtig gelebt wurde und unglaubliche Texte entstanden sind, und die dann zu toten Museen avancieren, transportieren eben doch etwas mehr, als die übersetzten Worte, die ich, fern vom Ort des Geschehens in der warmen Sommersonne lesen kann. Wenn ich heute ein Gedicht von Puschkin lese, oder in eine Erzählung von Dostojewski eintauche, dann wandere ich innerlich durch die Wohnungen, die ich in Petersburg betreten habe – auch wenn ich nicht weiß, wie viel sie mit ihren einstigen Bewohnern noch gemein haben.