Samstag, 30. Januar 2010

Schnittpunkte: Schily, Ströbele und Mahler

Der eine wird 1932 in Bochum geboren, ein anderer 1936 in einer schlesischen Kleinstadt und ein dritter 1939 in Halle. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in früher Kindheit durch den Krieg in Deutschland und dessen Folgen geprägt werden. Jeder auf seine Art. Ihre Lebenswege werden sich einige Jahre später schneiden. Es wird eine gemeinsame Wegstrecke geben. Und dann einen Moment, in dem jeder seine eigene Abzweigung nimmt. Sie werden einander diametral entgegen stehen.

Einer beginnt 1952 Jura zu studieren, ein anderer 1955 und ein dritter 1960. Der Schnittpunkt: Sie begegnen sich Mitte der 60er Jahre als Anwälte in Berlin. Dort ist ordentlich etwas los. Ein neues Kapitel der deutschen Geschichte wird geschrieben: Die APO (außerparlamentarische Opposition) wird „gegründet“ – die Studenten geraten in Bewegung und beginnen unangenehme Fragen zu stellen und eigene Ansichten zu vertreten.

Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Horst Mahler arbeiten als Anwälte in einem sozialistischen Anwaltskollektiv. Sie vertreten linke Größen, später RAF Terroristen und, wenn es sein muss, auch einander. Ein Foto vom Beginn der 70er Jahre zeigt die drei in einem Gerichtssaal. Sie streiten miteinander und füreinander, hinterfragen Recht und Gerechtigkeit und argumentieren geschickt und auf höchstem Niveau. Sie wollen das Land verändern, die Republik „erneuern“. Schily und Ströbele verteidigen Mahler, als dieser wegen eines Molotowcocktails vor Gericht steht.

Menschen begegnen einander. Und manchmal berühren sie sich dabei. Zum Beispiel durch politische Überzeugungen, durch berufliche Fähigkeiten oder auf der Ebene der zwischenmenschlichen Begegnung. Nicht immer entsteht aus einem Schnittpunkt, einem Kreuzungspunkt der Biographie des einen mit dem anderen, ein Stück gemeinsamen Weges. Aber manchmal. Diese Überschneidungen spielen dann auch im biographischen Netzwerk des einen mit dem Netzwerk des anderen eine Rolle – manchmal entzünden sich daraus Aktivitäten, Initiativen, Bewegungen – es entsteht Bedeutung. Zwischenmenschliche, berufliche oder/und politische.

In der Betrachtung der drei individuellen Lebensläufe ist ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte zu finden. Notstandsgesetze. Rudi Dutschke. Prozesse in Stammheim. Herbst 77. Rüstungspolitik. Die Gründung der Grünen. Um nur ein paar Stichworte zu nennen. Individualitäten prägen Geschichte. Die Geschichte prägt Individuen.

Individuelles und Überpersönliches - Allgemeinmenschliches - trifft und überschneidet sich. Im Rückblick wird etwas vom Zeitgeist erlebbar und sichtbar. Biographische Entscheidungen sind immer mit Raum und Zeit verbunden. In dem Film „Die Anwälte“ werden drei Portraits gezeigt, die nicht enger miteinander verknüpft und gleichzeitig nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. Die Dramaturgie des Lebens hat ordentlich mitgemischt. Die Stimmung, Fragen und Nöte der Jahre strahlen von der Leinwand ab und zeigen wie Brüche zu Gräben werden.

Was lässt sich eigentlich von außen erkennen, welche Möglichkeiten in der Biographie des Mitmenschen verborgen sind, welche Schätze oder Verwundungen darin versteckt liegen? Hätte man in den 70er Jahren vermuten können, wo die drei Männer vierzig Jahre später stehen? Hätte man ihre unterschiedliche Entwicklung „absehen“ können? Wonach richtet sich eigentlich die individuelle Entwicklung? Ohne karmische Verknüpfungen in der Vergangenheit macht das keinen Sinn – ist das nicht nachvollziehbar.

Denn die drei Männer vermeiden heute eine Begegnung miteinander. Wie ja bekannt ist: Otto Schily war Bundesinnenminister (SPD). Hans-Christian Ströbele ist bis heute das linke Gewissen der Grünen. Und Horst Mahler sitzt jetzt im Gefängnis, er gehört zu den rechtsextremen Holocaustleugnern. Zuletzt sind sich die drei 2002 begegnet. Wieder in einem Gerichtssaal. Im Verbotsverfahren gegen die Partei der Nationalsozialisten. Otto Schily tritt als Kläger gegen die NPD auf. Horst Mahler tritt als Verteidiger der NPD auf. Und Hans-Christian Ströbele ist parlamentarischer Beobachter.

Wie muss man sich das auf persönlicher Ebene wohl vorstellen?

Auf die Frage, „wie es dazu kommen konnte“, kann niemand antworten. Entwicklungen lassen sich nicht voraussehen. Veränderungen nicht berechnen. Auf dieser Ebene kann nur gelebt werden. Und zum Leben gehört das Staunen. Das Fehler machen. Die Neubesinnung. Die Umkehr. Die Möglichkeit der Veränderung. Die Lähmung. Folgen aber hat alles. Konsequenzen. Egal wie man sich entscheidet – jede Entscheidung zieht etwas nach sich.

In dem Film „Die Anwälte“ werden drei Lebensläufe gezeigt. Nebeneinander. Auf der Leinwand. Individuelle Interviews aus dem Jahr 2009 zur „Sache“ und den „Kollegen“ – verbinden die dokumentarische Ebene: Film-, Foto- und Textmaterial aus den letzten 40 Jahren. Schnittpunkte werden beleuchtet. Biographische Überzeugungen, die explizit verbalisiert werden, stehen individuellen Entwicklungen und Lebensverläufen gegenüber. Das Ende: Ströbele ein unbeirrbarer Linker, Schily ein Bürgerlicher in der konservativen Mitte, Mahler ein Rechtsextremer.

Dieser Film löst Betroffenheit aus. In mir. Weil er schonungslos berichtet. Weil er den großen Wurf macht, einen Spannungsbogen zeigt. Wunden nicht verschweigt. Weil er sichtbar macht, was es heißt zu leben. Mutig zu leben. Sich zu zeigen, sich einzubringen. Streitbar zu sein. Überzeugungen auszuleben. Mit und ohne Verständnis. Individuell und in der Verzahnung mit anderen Menschen, politischen Überzeugungen und Entwicklungen, mit der Nachkriegsgeschichte Deutschlands.

Ich selbst bin im Geist dieser Zeit aufgewachsen. Namen, Ereignisse, Fragen und Ansichten gehören zu meiner Kindheit. Zum täglichen Gespräch. Das Ringen „von damals“ schlummert in mir. Irgendwie habe ich das alles mitgemacht. Jetzt kann ich auf meine eigene Herkunft zurückblicken – auf der Leinwand.

Im Film blickt jeder der Beteiligten, der drei älteren Herren, auf seinen eigenen Weg zurück. Und doch entsteht ein Bild des großen Ganzen. Dafür ist dieser Film sehr zu loben, weil er weit über persönliche Fragen und Dimensionen hinausgeht. Dieser Film regt an, neue Perspektiven einzunehmen. Und auf Zeiten, Mitmenschen, und vor allem auf das eigene Leben neu zu schauen.

Alle genannten sachlichen Informationen, Hintergründe und ein Trailer des Films sind zu finden unter: http://die-anwaelte.realfictionfilme.de/index.php

Dienstag, 26. Januar 2010

Der konstruktivistische Zeitgeist. Leben ohne Boden unter den Füßen und ohne Sternenhimmel über dem Kopf.

Innerhalb meines berufsbegleitenden Masterstudienganges der Pädagogik an der Alanus Hochschule sitze ich in einem Seminar über Pädagogische Psychologie. Das Seminar wird von einem Privatdozenten der Universität Bonn geleitet. Ein geachteter, ehrenwerter Repräsentant seines Faches, ein Hochschullehrer, der den Stand der heutigen Psychologie darstellt und vertritt.

Er führt uns in sein Fach ein und skizziert die Fragestellungen, die uns als Pädagogen mit der Psychologie verbinden. Ich höre dem Dozenten zu, bin thematisch bei den Ausführungen, aber nicht sehr angestrengt, denn durch mein eigenes Studium der Erziehungswissenschaft sind mir die Begriffe geläufig, ich habe von Themen, Berichten, Bereichen und Perspektiven schon gehört. Es geht um Lernmodelle, um intrinsische und extrinsische Motivation, um Schule und Gesellschaft und einiges mehr. Nebenbei macht der Dozent aber eine Bemerkung über das Selbstverständnis der wissenschaftlichen Psychologie heute, über den Zeitgeist. Diese Bemerkung packt mich.

Er sagt: „Obgleich das griechische Wort ‚Psychologie‘ mit ‚Lehre der Seele‘ übersetzt werden kann, gibt es in der heutigen Psychologie den Begriff der Seele nicht mehr. Jegliche psychologischen Betrachtungen über den Menschen werden ohne den Begriff der Seele gemacht.“ Und weiter: „Die heutige Psychologie arbeitet ohne ein explizites, deutlich beschreibbares, klar umrissenes Menschenbild.“

Das sind Tatsachen, die ich eigentlich schon kenne. Plötzlich aber werden diese Aussagen real und ich frage mich, wie ich mir das konkret vorstellen soll. Wie kann das gehen und was bedeutet dieser Umstand eigentlich? Die Human-Psychologie arbeitet mit dem Menschen – und es gibt kein explizites Menschenbild mehr worauf sie sich gründet. Und die Psychologie sagt von sich selbst, dass sie auf der Ebene der menschlich-seelischen Ereignisse kundig und tätig ist – es gibt aber explizit keine Seele mehr, die zum Menschen gehört. Auf welchem Boden steht die Psychologie heute? Was ist ihre Grundlage? Wie ist ihr Selbstverständnis? Wie schaut sie auf Menschen?

Ob der Betroffenheit, die im Seminar entsteht, denn es ist zu spüren, dass noch weitere Teilnehmer mit diesen Fragen ringen, erläutert der Dozent entschuldigend: „Alle Disziplinen sind von ihren Grundfragen abgerückt. Es gibt keine Antworten mehr darauf. Die Wissenschaft hat ihr Augenmerk auf andere Ebenen gerichtet. Auch die Biologen wissen nicht, was Leben ist, die Physiker können die Natur nicht mehr definieren und die Erziehungswissenschaftler äußern sich nicht mehr darüber, welches Bild vom Menschen ihren Ansichten, Forderungen oder Erkenntnissen zu Grunde liegt.“

Durch diese Aussagen spüre ich plötzlich, welchem Zeitgeist wir unterlegen sind. Ich bin in der Gegenwart angekommen. Die Orientierungslosigkeit und die menschliche Verlorenheit unserer Zeit ist bei uns im Seminarraum spürbar. Der Mensch, ein Konstrukteur und Schöpfer seiner selbst. Gewissheiten, Allgemeingültigkeiten oder auch Überzeugungen gehören der Vergangenheit an. Ein Aufgehoben sein gibt es nicht mehr. Das Mittelalter ist längst vorbei, wir leben noch immer im Zeitalter der Aufklärung – ja, und da gibt es eben keinen festen Boden mehr.

Mir wird plötzlich klar, dass die einzige sich heute anbietende Schlussfolgerung in diesem Zusammenhang die kraftvolle Geistesströmung des Konstruktivismus ist, dessen Annahme es ist, dass es keine fest stehenden Korrelationen zwischen Himmel und Erde, Mensch und Umwelt, zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Wahrnehmung und Außenwelt gibt. Das Passungsverhältnis zwischen äußerer Realität und innerer Erkenntnis entspricht dem Verhältnis von Schlüssel und Schloss. Es ist möglich, mit verschiedenen Schlüsseln ein Schloss aufzuschließen und die meisten Wissenschaften sind dazu übergegangen, einen Dietrich zu benutzen…

Der Mensch erfindet also seine Wirklichkeit. Das, was von Menschen als objektive Wirklichkeit bezeichnet wird, ist immer subjektiv. Und ich höre die eindringliche Stimme des Kommunikationswissenschaftlers Watzlawick imaginär: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Die heutige Wirklichkeit wird von uns erfunden, erzeugt und konstruiert sowie entdeckt. Sowohl das Subjekt, als auch das Objekt sind Konstruktionen des Menschen - in diesem Sinne gibt es keine gemeinsame - reale - Wirklichkeit mehr. Alles ist möglich. Also auch eine Psychologie ohne den Begriff der menschlichen Seele. Und ein Blick auf Menschen – ohne Menschenbild.

Jedes Menschenbild ist eine persönliche Konstruktion und Interpretation des Menschen in der Welt. Und ich unterstelle, dass jeder Mensch ein implizites Menschenbild hat. Abgesehen davon, ob er das auch explizit verbalisiert und begründet. Ob ein Bild nun anthroposophisch, buddhistisch, hinduistisch, humanistisch, christlich oder sonst wie geprägt ist, spielt dabei keine Rolle. Nicht die Frage nach seiner Richtigkeit ist das Entscheidende, sondern die Frage ist, was auf ein Menschenbild folgt – was daraus entsteht, welche Möglichkeiten sich entwickeln. Ob und wie der Mensch handelnd in die Welt eingreift, hängt maßgeblich davon ab, wo und wie er sich als Mensch, als „human being“, positioniert.

Der Boden unter unseren Füssen führt uns zwischen Himmel und Erde und von Mensch zu Mensch nur dann zu einem Ziel, wenn wir wissen, wohin wir wollen und die Sterne am Himmel bekommen nur dann eine Bedeutung, wenn wir sie ihnen geben.

Dienstag, 19. Januar 2010

Moskau. Macht, Masse und Innerlichkeit in Europa.

Ausgehend von der Einsicht, dass Europa eine Idee, ein Urbild, ein Gedanke und weniger ein geographischer Raum zu sein scheint, blicke ich auf Moskau. Wie zeigt sich Europa an seinen östlichen Grenzen? Gibt es eine eindeutige Antwort auf die Frage, was die Idee „Europa“ beinhaltet, was diese Idee ist? Feststellen lässt sich, dass innerhalb dieses Europa-Urbilds Moskau einen Beitrag leistet. Es ist die größte Stadt, stellt also das größte Abbild dieses Gedankens dar. - Wo genau verläuft eigentlich die Ostgrenze von Europa? Und, gibt es innerhalb von Ideen überhaupt Grenzen? -

In Moskau leben über 10 Millionen Einwohner, plus all die Menschen, die jeden Tag in die Stadt fahren um dort zu arbeiten, oder die als Touristen kommen. Es wird geschätzt, dass sich jeden Tag mehr als 20 Millionen Menschen an dem Ort, den wir Moskau nennen, aufhalten. Moskau ist eine Stadt der unüberschaubaren Ansammlungen, der Menge, des Gedränges, Gemenges und des Getümmels. Es ist die Stadt der Masse. Menschen- und Automassen prägen das Bild. Die Spannung der Stadt offenbart sich zwischen den goldenen Zwiebeltürmen der Vorzeit und den verkommenen Metrostationen der Jetztzeit.

Im Außen gibt es für die Russen noch immer nicht so viel zu holen. Zwar teilt sich die Stadt ihren Sowjetcharme der unendlich vielen - baufälligen - Hochhäuser mit den sakralen Bauten der russisch-orthodoxen Kirche, zu spüren bleiben aber die alles umschlingenden, kalten Winter. Ein Riss geht durch die Stadt. Die lange, schneereiche Jahreszeit scheint überall und immer präsent zu sein, obwohl der Himmel blau ist und die Sonne warm scheint. Moskau ist keine Stadt des Südens, des Draußen- und Aufgehobenseins - Moskau ist eine Stadt der Innenräume, die erkämpft werden müssen.

Gerade das ist die delikate Wunde der fast 900jährigen Geschichte dieser Stadt. Innenräume geben klare Statements. Was aber, wenn sich der Zweck ändert? Wenn die älteste Kirche zugunsten eines modernen Sowjetschwimmbades weichen muss? Wenn Revolutionen die Geschichte prägen und ihre Spuren hinterlassen? Was, wenn das Statement eines Raumes Verwirrung auslöst? Wenn nicht mehr klar ist, was sich hinter dem Zweck, der Aussage verbirgt?

Der Moskauer Kreml verdeutlicht dieses Bild: das Machtzentrum des Landes ist eingezäunt. Schon seit eh und je. Die stolzen Mauern des Kremls umrunden einen Ort der Macht, den Ort der Macht. Es ist das Herrschaftszentrum über das unendlich große, mütterliche, russische Reich. Diese Macht ist spürbar. Als Energie, als Kraft deutlich wahrnehmbar. Im Äußeren aber nicht festzumachen, indifferent. Strahlen die alten Kirchen - mit ihren goldenen Türmen - diese Kraft aus? Oder das Parlamentsgebäude aus sowjetischer Zeit? Sind es die Aufpasser und Wächter, die darauf achten, dass die Touristen die markierten Wege nicht verlassen? Die gigantische Zarenkanone? Die russische Macht ist nicht zu fassen. Aber wahrzunehmen. Der Kreml ist ein alter Ort und der Zar ist auch nach hundert Jahren noch präsent. Spürbar ist ein gewaltiger Zeitstrom in dem alles gegenwärtig scheint. Gegenwart und Vergangenheit verschränken sich hier. Mir verschlossen bleibt die Zukunft. Wohin wird sie das Land führen?

Auf den Straßen gibt es keine Kinder. Es sind Erwachsene, alte Leute, die das Stadtbild prägen. Unendliche Menschenkolonnen. Wer mit der Metro fahren will, muss sich in diesen Strom einordnen. Die langen, steil abwärts führenden Rolltreppen nehmen mich mit in den Schlund der Stadt. Mit rasender Geschwindigkeit braust die Metro durch die Schattenwelt. Wer nicht weiß, wo er hin will, ist verloren. Hier kann man sich nur einordnen. Mitgehen. Sich vom Strom des Geschehens mitreißen lassen. Es gibt prächtige U-Bahn Stationen und verkommene, marode und abgewirtschaftete, alles deutet auf die wechselvolle Geschichte des Landes hin.

Möglicherweise ließe sich die russische Geschichte anhand der Metro-Stationen erzählen. Was aber wären diese Orte ohne Menschen? Unten, vor den unendlich langen Rolltreppen stehen kleine Glashäuschen. Darin sitzt ein Wärter, ein Wächter. Oft ist es eine Frau. Ihr Job ist es, die Reisenden auf der Rolltreppe zu beobachten. Den ganzen Tag Unmengen von Menschen an sich vorbeiziehen zu lassen. Diese Fülle prägt die Stadt Moskau, sie ist Teil der Idee Europas. Unterirdisch wird das durch den Menschenstrom in der Metro sichtbar, oberirdisch durch die nicht enden wollenden Autokolonnen. Fahrräder oder Motorräder gibt es nicht. Das wäre auch viel zu gefährlich. Aber auch sechsspurige Straßen werden von Menschen mit kleinen Besen aus Birkenzweigen gereinigt…

Und die Menschen - sie strahlen etwas aus. Faszinierend finde ich das Antlitz der Russen. Ich sitze im Bus und betrachte Gesichter. Viele sind verschlossen, in sich gekehrt und haben einen groben Ausdruck. Ich sehe breite Gesichter mit einem nach innen gekehrten Blick. Drückt sich in diesen Gesichtern Ohnmacht aus? Nein, es ist Innerlichkeit. Eine verschlossene Tür zum Innenraum des Menschen. Die Russen präsentieren sich äußerlich verschlossen, fast abweisend. Innerlich aber lässt sich ein reiches und warmes Seelenleben erahnen. Wie ließe es sich sonst aushalten zu beobachten, dass sich ein altes Mütterchen vier Klohäuschen aus blau-weißem Plastik kauft, sie an den Straßenrand stellt und die Menschen einlädt für 15 Rubel ihre Toilette zu benutzen? Ohne eine reiche Innenwelt ist das unvorstellbar. Die russische Seele offenbart sich, sobald die Menschen sprechen - oder in einer Kirche singen. In ihrer warmen, klangvollen Sprache, die reich an Vokalen ist.

Ein großes Abbild dieser warmen, offenen Seele finde ich in der Tretjakowa-Galerie. Dort hängt die unglaublich große und prächtige, feine und schöne Ikone von Andrej Rubljew - ich glaube, es gibt keine größere Ikone auf der Welt - es ist der Pantokrator, gemalt 1408. Die Kraft dieser Christusgestalt geht von seiner Feinheit aus, von seiner Offenheit. Von seinem Ja zu jedem einzelnen Menschen. Und ich möchte fast schreiben: von seiner Liebe. Sein Blick von innen nach außen und gleichzeitig von außen nach innen umfasst alles. Nimmt alles auf. Der Pantokrator symbolisiert Macht, Kraft, Autorität - und Ohnmacht, Schwäche, Bedeutungslosigkeit in einem. Sein Blick strahlt Herzenskräfte aus. Das, was wir das menschliche Leben nennen. Er schaut aus dem Zentrum des einzelnen Menschen in seiner Verwundbarkeit in die Welt und gleichzeitig in diese Mitte hinein. Trotz der Zerbrechlichkeit. Er wird zum Schnittpunkt von Innerlich- und Äußerlichkeit. Für den Besucher erlebbar, wenn er dem Bildnis gegenüber steht.

Die Ikone feiert ihr 600-jähriges Bestehen. Rubljew hat wohl kaum geahnt, dass er ein göttliches Abbild des modernen russischen Menschen in seiner Innerlichkeit gestaltet hat. Dass dieses Bild als Vermittler zwischen Außen- und Innenwelt des Menschen in Moskau im 21. Jahrhundert dienen kann. Das Abbild wird zum Urbild: Christus zum Menschen, der Mensch zu Christus. Oberwelt und Unterwelt verschränken sich miteinander. Die östliche Metropole, begriffen als das Tor in die westliche Welt. Der Einzelne ist Teil der Masse - Ohnmacht ergänzt Macht. Die Aura der Stadt präsentiert sich im Zeitenstrom der Geschichte. Moskau, ein Abbild der Idee Europas: Macht, Masse und Innerlichkeit.

Montag, 11. Januar 2010

Biographische Wege. Einfache, doppelte und netzartige

Die eigene Biographie wird oft mit einer Lebenslinie verglichen, einem Weg, den das Individuum geht oder gegangen ist. Selten wird das Bild benutzt, dass das eigene Leben aus einem Netz von langen oder kurzen, dicken oder dünnen Linien besteht, die sich kreuzen oder trennen und von denen man nie weiß, welche Bedeutung sie haben oder haben werden. Dieses Bild finde ich weitaus passender.

Auf der einen Seite ereignen sich die Dinge linear – ein Ereignis nach dem anderen – von der Geburt bis zum Tod. Unterstützt wird dieser Blickwinkel durch die Tatsache, dass sich der Mensch physisch immer nur an einem Ort aufhalten kann. Dagegen spricht aber, dass der Mensch nicht nur ein physisches Leben, sondern auch ein seelisches und geistiges führt.

Insofern ereignen sich „die Dinge“ auf den verschiedenen Ebenen polyphon. Es passiert vieles gleichzeitig und es finden unerwartete Durch- oder Abbrüche statt. Neben überraschenden Abgründen oder hochaufgetürmten Wänden können sich plötzlich auch mehrere gangbare Wege eröffnen – auch, wenn man sich physisch nur an einer Stelle befindet. Das Bild des „Lebensweges“ stimmt also und muss gleichzeitig weitläufiger und größer gefasst werden, als nur auf die physische Ebene bezogen. Es ist ein großartiges, verwirrendes und unüberschaubares Labyrinth von vielen Wegen.

In der Literatur werden Lebensläufe - so, wie das Leben innerlich und äußerlich ge-laufen wird, wie es ver-läuft - oft dargestellt. Schon im Mittelalter wurde in der höfischen Literatur von Lebenswegen berichtet. Klassische Helden sind in der deutschen mittelalterlichen Literatur meist Männer - Ritter - die abenteuerliche Wege beschreiten und für König Artus kämpfen. Helden sind diejenigen, die die Anforderungen von außen glänzend bestehen - sie besiegen Ungeheuer, böse Zwerge und retten Prinzessinnen aus verwunschenen Schlössern.

Bereits um 1200 entwickelt sich, in der sogenannten Artusepik, ein neuer Helden-Typus. Helden strahlen dort auf geheimnisvolle Weise nicht mehr durchgehend, und es geht auch nicht mehr nur noch um die bösen, gewitzten, hinterhältigen oder niederträchtigen Herausforderungen und Angriffe, die dem Kämpfer von außen entgegen kommen, sondern es geht auch um die inneren Anfechtungen, die aus individueller Persönlichkeit heraus entstehen. Neu ist nicht das Phänomen der Krise an sich, sondern neu ist die eigene Schuld, der persönliche Fehler, das individuelle Versagen.

Der mediävistische Fachbegriff für diese Art der Erzählungen ist: Doppelwegsepik. Was verbirgt sich dahinter? Nein, es sind nicht zwei Wege, die gleichzeitig gegangen werden, sondern es sind zwei Chancen, die dem Probanden gewährt werden. Zunächst zieht er, strahlend und seines Sieges meist gewiss, in die Welt hinaus um seine Abenteuer – seine Aventuiren – zu bestehen und seiner Dame zu dienen. Wenn er erfolgreich zurückkehrt – und jeder, der ein wirklicher Held ist, tut das – wird er am Artushof, ob seiner Erfolge, seiner Schönheit, seines Mutes oder seiner Taten, gefeiert.

Die „älteren“ Geschichten enden an dieser Stelle. Die Erzählungen aber, die zur sogenannten Doppelwegsepik zählen, beginnen nach dem ersten Erfolg spannend zu werden, denn es folgt ein Abstieg. Der Held macht etwas falsch, er verliert seine Ehre, genügt den Ansprüchen nicht oder er gerät in einen Hinterhalt, den er selber heraufbeschwört. Die Folge ist, dass er sich neu bewähren muss. Sein Glanz ist ermattet, seine Ehre angekratzt, sein Sieg fraglich oder sein Ansehen und Ruhm verblasst – das kann er nicht auf sich sitzen lassen.

Er muss also aufs Neue aufstehen, sich zeigen und „ausreiten“, Möglichkeiten suchen, Wege beschreiten. Und das tut er auch. Er zieht ein weiteres Mal aus, um sich zu zeigen und selber zu spüren, wer er ist. Wenn er seine eigenen Fehler überwindet, sein Scheitern und die damit verbundene Krise in sich integriert, dann erstrahlt er ein zweites Mal und sein Heldentum wird ihm nicht wieder genommen. Er hat es dann „wirklich“ und „für immer“ geschafft – er ist auf dem Königsweg angekommen und ein „echter“ Artusritter.

Wie kommt es, dass dieses persönliche Scheitern, in das der Held geraten ist, ihn nicht niederwirft und „auf den Boden“ legt? Die höfische Gesellschaft gesteht dem Individuum also bereits um 1200 eigenverschuldete Krisen, Fehler und Unzulänglichkeiten zu, obwohl das offizielle Konzept das nicht vorsieht. Die Doppelwegstruktur der mittelalterlichen Epik hat Signalcharakter. Und trotzdem tun wir uns heute noch schwer, biographische Tiefpunkte - unbekannte Seitenwege oder Sackgassen - auszuhalten. In der Literatur werden diese vielen Wege aber auf allen Ebenen deutlich beschrieben.

Nach den Helden, die einen doppelten Weg gehen mussten, wurden auch die sogenannten Antihelden, die Scheiternden, die Untergehenden und Schwachen literarisch gezeigt, es gibt eine Menge Beschreibungen von denjenigen, die es nicht geschafft haben. Heute stecken die Ungeheuer, bösen Zwerge oder zu rettenden Prinzessinnen in uns selber. Der „Kampf“ findet also im Inneren statt. Und sowohl die literarischen Gestalten der Gegenwart als auch die realen Menschen stehen vor den gleichen Herausforderungen.

Entsteht nicht gerade aus dem Scheitern und der Katharsis am Tiefpunkt eine Kreativität, neue Fähigkeiten, Geistesgegenwart und persönliche Integrität, die zukunftsweisend - auch über ein Leben hinaus - sind? Biographien, das, was das Leben des Einzelnen (in die Erde) schreibt, erweisen sich bei genauem Hinsehen als ein weitläufiges Wegenetz – eingegrenzt von Geburt und Tod (und neuer Geburt und neuem Tod). Selten wissen wir, an welchem Punkt des Gesamtweges wir uns gerade befinden.

Von dem Mut, dem Stolz und dem Glanz der mittelalterlichen Helden, die das Vertrauen hatten, dass die eingeschlagenen Wege die richtigen sind, könnte sich manch einer heute eine Scheibe abschneiden. Aber auch ein "König Artus", der eine anerkennende Instanz ist, könnte sich heute deutlicher zeigen.

Individueller, biographischer Sinn konstruiert sich erst durch die vielen Wege, die wir tatsächlich und gleichzeitig und mutig beschreiten – auch, wenn wir nicht wissen, wann und wo wir ankommen. Die biographische „Lebenslinie“ präsentiert sich als biographisches Netz, das die unterschiedlichsten Wege beinhaltet. Schaut sich das eigentlich die Literatur vom Leben ab, oder das Leben von der Literatur?

Freitag, 1. Januar 2010

Wunsch und Wille. Vorsätze im neuen Jahr

Wenn es um Weihnachten geht, sind Wünsche nicht fern. Besonders Kinder wiegen sich in Wünschen, die sie auf Wunschlisten schreiben und ihrer Umgebung bekannt machen, damit ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Kinder wünschen sich gerne etwas von anderen - Geschenke.

Zu Neujahr sieht das anders aus. Da geht es zwar auch um Wünsche, aber da sind es meist die Erwachsenen, die sich etwas wünschen. Und sie wünschen sich keine Geschenke von anderen, sondern, sie wünschen sich etwas von sich selbst. Sie wollen etwas verändern, etwas erreichen, etwas anfangen, aufhören, abschließen, durchhalten und so weiter. Da gibt es unendlich viele gute Vorsätze zu verzeichnen.

Der Begriff „Wunsch“ ist etymologisch nicht weit von dem Begriff „Wille“ entfernt. Wünschen und wollen gehören zusammen. Das eine Wort richtet seine Aufmerksamkeit mehr nach außen, in die Umwelt und das andere nach innen, in die Innenwelt des Individuums.

Unser Wille lässt uns Ziele verfolgen. Er lässt unsere Füße gehen, unsere Hände zugreifen oder zuschauen, er richtet unseren Blick aus. Der Wille ist tief im Menschen verankert und lässt sich nicht so einfach verändern. Er hat mit unseren innersten Intentionen zu tun und ist uns nicht immer bewusst. (Mit welchem „Letter of intent“, welcher „Absichtserklärung“ seid ihr angetreten? Wo wollt ihr in der Zukunft landen?)

Wie der Wille im Inneren eines Menschen aktiviert wird, wie der Wille in Bewegung kommt und sein Ziel anstrebt und verfolgt, das liegt oft im Verborgenen unseres Bewusstseins. Meist lässt sich nur im Nachhinein etwas darüber sagen, wie der Wille eines Menschen ausgerichtet ist, denn wenn das Ziel erreicht ist, sieht man den dahinter stehenden Willen deutlicher.

Wunsch und Wille richten sich im Zeitenstrom auf die Zukunft. Wünsche entstehen jedoch in der Gegenwart. Sie hängen von der momentanen Lebenssituation und vom sozialen Umkreis ab. Der Wille jedoch nistet sich in der Vergangenheit in uns ein. Er entsteht in einer ganz privaten, individuellen und persönlichen Vergangenheit, die mit der gegenwärtigen sozialen Umgebung unter Umständen gar nichts zu tun hat. Aber auch er sucht seine Erfüllung in der Zukunft, er strebt unablässig in das Kommende. Wunsch und Wille müssen also in der Gegenwart gestaltet werden, um in der Zukunft anzukommen.

Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass es ja auch viele unbewusste Wünsche gibt, einen Willen, den wir gar nicht in Worte fassen können, gar nicht im Bewusstsein haben. Da gibt es die verbotene Ebene, die notwendige, natürliche und unnatürliche, die geheimen und unmöglichen Wünsche oder Willensrichtungen. Es gibt das Sehnen und Begehren, das Verlangen und die Träume, das Bedürfnis und den Drang.

Walter Benjamin beginnt seine kleine Erzählung „Wintermorgen“ in der Sammlung: „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ mit den folgenden - einfachen und doch so tiefsinnigen - Worten:

"Die Fee, bei der man einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eigenen Leben die Erfüllung wieder."

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern ein glückliches neues Jahr und hoffe, dass viele von euch im anbrechenden Jahr etwas von der Erfüllung mitbekommen, die sie sich einst in Wünschen und Willensbekundungen mit auf den Weg nahmen – denn an der Realisierung dessen, was wir als Vorsatz in uns tragen, können wir einen aktiven Beitrag leisten.