Donnerstag, 31. Dezember 2009

Gelingendes Leben

"Aber heute fürchte ich nichts, heute zeige ich mich freimütig, schutzlos dem Tag, mache die Demutsgebärde des angegriffenen, schwächeren Wolfs, zwinge den Übermächtigen zur Großmut und wage, mich zu freuen, weil der Morgen frisch und bitter riecht, weil der Himmel makellos ist, weil eine späte rote Rose aufgeblüht ist am schon verdorrenden Busch, weil ich den Tod nicht scheue, weil ich lebe, weil ich auf eine Art lebe, die nur ich weiß und kann, ein Leben unter Milliarden, aber das meine, das etwas sagt, was kein anderes sagen kann. Das Einmalige eines jeden Lebens. Es macht heiter, zu wissen, dass jeder Recht hat mit sich selbst. Schön ist es, älter zu werden, erlöst von sich, von der gewaltigen Anstrengung, etwas zu werden, etwas darzustellen in dieser Welt. Gelassen sich einfügen, irgendwo, wo gerade Platz ist, und überall man selbst zu sein und zugleich weiter nichts als einer von Milliarden. Dies alles, in vielen Worten gesagt, dauert zu fühlen drei, vier Atemzüge lang."

Luise Rinser

Sonntag, 20. Dezember 2009

Im Krankenhaus. Wenn Seele und Geist weggeschickt werden.

Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert in Krankenhäusern. Da ihr Arzt das Krankenhaus am Sonntag darüber informiert hatte, dass sie kommen würde, war alles vorbereitet. Sie musste nur ihre Plastikkarte abgeben. Das war gewissermaßen der Eintrittsschein in die Welt der medizinischen Versorgung. Von da an war sie ein „Fall“. Eine Patientin, die medizinisch betreut und versorgt wurde.

Da sie niemand kannte, und in dem großen Gefüge eines Krankenhauses mit all seinen Abläufen die menschliche Zuständigkeit ständig wechselte, wurden jede Menge Datenaufkleber gedruckt. Für die diversen Akten und Schriftstücke, für Laboruntersuchungen und alles weitere, was sie betraf. Die Etiketten mit ihrem Namen verteilten sich in alle Richtungen des großen Gebäudekomplexes.

Die neue Patientin war ein hinzugekommenes Rädchen im Getriebe. Nichts sollte verwechselt werden. An dieser Stelle ging es ganz explizit um physische Individualität. Auch an das Bett der neu Aufgenommenen wurde ein Schild mit ihrem Namen gemacht und selbst um ihr Handgelenk wurde ein Bändchen gelegt, auf welchem Name und Geburtsdatum zu lesen waren.

(Wie gut, dass kein Bändchen um einen Zeh ihres Fußes gelegt wurde. Später hörte sie, dass man das in amerikanischen Filmen bei Verstorbenen so sehen kann.)

Über das Namensbändchen war sie irritiert. Ob die Schwestern wohl meinten, dass sie selbst vergessen könnte, wer sie sei? Nachdem sie aus der Narkose nach der OP wieder erwachte, bemerkte sie, dass eine Schwester das Bändchen an ihrem Arm verstohlen abriss. Das brauche man nun nicht mehr, sagte sie, denn nun könne die Patientin sich ja selber wieder artikulieren. Die OP war also gut verlaufen – sie wusste nicht viel darüber, was die Ärzte konkret getan hatten – nein, sie wusste es nur so ungefähr. Und einen Moment Zeit, dass man es ihr hätte in Ruhe erklären können – den gab es wohl nicht. Sie war wach, lag still in ihrem Bett und wartete ab.

Um gesund zu werden wird ein Patient in einem Krankenhaus um zwei Dinge gebeten. Einerseits um totale Hingabe. Übergabe und Vertrauen in das, was Ärzte wollen und einfach tun. Und andererseits um einen kritischen Geist. Mitdenken, nachfragen, nicht locker lassen. (Ja, was sie nicht alles unterschreiben musste!) Eben das Gegenteil von Hingabe. Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen liegt der goldene Mittelweg. Weder das eine noch das andere funktioniert in seiner Reinform. Gerade das, worum implizit gefragt wird, ist eine menschliche Mitte, die den Körper, die Seele und den Geist mit einbezieht. Diese Mitte in einem Krankenhaus zu bewahren, ist gar nicht so einfach.

Eine Nacht wird normalerweise von Stille und Dunkelheit getragen. Auch im Krankenhaus kommt zu später Stunde so langsam Ruhe auf und es wird dunkler. Aber eben nicht ganz. Auf der einen Seite ist es still, schwer und dunkel und auf der anderen Seite bleibt es unruhig. Die nächtlichen Stunden werden von Geräuschen und stoisch aufblinkenden kleinen Lichtern durchzogen, sowie von einer unablässigen und unklaren Unruhe und Bewegung durchströmt. Es ist gerade so still, dass jedes Geräusch zu hören ist. Eine Stimme auf dem Flur. Türen, die auf und zu gemacht werden. Ein Klingelknopf, der in einem anderen Zimmer getätigt wird. Betten, die verschoben werden. Patienten, die neu eingeliefert werden. Ein leises Klappern – schlicht, jede kleine Bewegung ist in der Stille der Nacht hörbar, wenn man nicht schläft.

Als sie, zu nächtlicher Stunde nach Baldrian oder einem Beruhigungstee fragte, bot man ihr Valium an. Das dürfe sie ruhig nehmen – dann könne sie sicher schlafen. Etwas anderes gäbe es nicht. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte sich nicht noch einmal so abgeben, so verlieren, sich selber so verlassen wie bei der Narkose. Nein, und wenn sie die Nacht wach bleiben würde, Valium wollte sie nicht nehmen.

Sie war keine 24 Stunden im Krankenhaus. Wie viele zuständige Schwestern oder Ärzte in dieser Zeit an ihr Bett traten, konnte sie nicht erinnern. Sie weiß noch, dass es einen Zeitraum gab, da in sehr kurzen Abständen ihr Puls, ihr Blutdruck und ihre Temperatur gemessen wurden. All das wurde in Akten abgelegt. Was es zu bedeuten hatte – das wusste sie nicht. Alles schien irgendwie normal zu sein. Aber für sie war alles neu, fremd und nicht vertraut. Sie war noch nie operiert worden.

Physisch nahm alles seinen Gang. Komplikationslos. Da sie am Morgen zwar die Erlaubnis erhielt zu duschen, ihr aber kein Handtuch angeboten wurde - denn sie selbst hatte keins dabei, weil sie ja gar nicht darauf eingestellt war, über Nacht dortzubleiben - beschloss sie, das Krankenhaus so zu verlassen. Ungeduscht. Nur weg. Zurück auf bekanntes Terrain. Dort gesund werden. Als sie nach dem Frühstück zurück an ihr Bett kam, lag da der Entlassungsbrief - das hieß, dass sie gehen konnte.

Wie verlässt man ein Krankenhaus? Geht man einfach? Oder gibt es jemanden, dem man die Hand geben konnte? Der explizit wissen sollte, dass man geht? Schließlich war doch auf physischer Ebene einiges passiert. Die Tagschwestern waren erst seit kurzem im Dienst und hatten - bis auf „Messungen“ - noch gar nicht mit ihr gesprochen. Der Arzt hatte sein Okay zur Entlassung gegeben, war aber längst in anderen Zimmern verschwunden. Sie „kannte“ niemanden, ging aber trotzdem zu einer der jungen Frauen in weißem Kittel und gab ihr die Hand um Auf Wiedersehen zu sagen.

Ein Aufenthalt in einem normalen Krankenhaus bedeutet, dass alles getan wird, was auf physischer Ebene zu tun ist, um Gesundheit zu erlangen. Seele und Geist werden aber durch eine Narkose explizit weggeschickt, ja verbannt. Sie brauchen dann Zeit, um sich langsam wieder anzunähern. Denn sie gehören zur Gesundheit des Menschen dazu. An diesem Erlebnis wurde ihr sehr deutlich, was es hieß, wenn man sich nur um eine Ebene - die physische - des Menschen kümmert.

Die Seele hätte eine Chance gehabt mitzukommen, wenn auf der menschlichen Ebene etwas mehr Anteilnahme genommen worden wäre. Ganz abgesehen vom Geist, der die Geschehnisse erst in einen größeren Zusammenhang bringen musste, um irgendwie mitzugehen. Zu wünschen ist, dass eines Tages auch die „normalen“ Krankenhäuser daran denken, dass der Mensch nicht nur aus physischer Materie besteht.

Um gesund zu werden ist sie nun dabei, neben der physischen Genesung, auch seelisch und geistig wieder eins zu werden.

Sonntag, 6. Dezember 2009

Novellen. Der Falke aus Florenz

Boccaccio (1313-1375) war der erste Gelehrte an der neugegründeten Universität in Florenz, der öffentlich über die „Göttliche Komödie“ von Dante (1265-1321) sprach. Er war, mit seinem Dichter-Freund Petrarca (1304-1374), ein großer Dante-Freund und -Kenner. Boccaccio war ein Erzähler und Humanist der ersten Stunden, in der erwachenden Renaissance in Florenz.

Nachdem 1348 die Pest in Florenz ihr Unwesen getrieben hat (und in Prag die erste deutsche Universität eröffnet wurde) begann Boccaccio das „Dekamerone“ zu schreiben. Angelehnt an die „Göttliche Komödie“ mit ihren einhundert Gesängen, schuf er einen Novellenzyklus aus einhundert Erzählungen.

Die Rahmenhandlung des Dekamerone erzählt vom pestverseuchten Leben in der Stadt am Arno – und gehört auch heute noch zu den wenigen brauchbaren dokumentarischen Berichten über diese Unglückszeit. Drei junge Männer und sieben junge Damen treffen sich in der Kirche Santa Maria Novella - von dort nimmt die Binnenhandlung, nehmen die „Novellen“ oder auch „Neuigkeiten“ ihren Ausgangspunkt - und beschließen gemeinsam aufs Land zu ziehen, um der Ansteckungsgefahr zu entgehen.

Sie ziehen Richtung Fiesole in ein Landhaus. Auch heute, siebenhundert Jahre später, steht das Gebäude noch da – an der Via Boccaccio – und beherbergt eine Fakultät der Europäischen Universität (!). Damals war es ein verwaistes aber intaktes Landhaus, in das die Gruppe der Überlebenswilligen geflüchtet ist, um die Zeit miteinander zu verbringen.

Eine Funktion des Erzählens ist es schon immer, sich die Zeit auf angenehme, aufregende, lustvolle, interessante oder bereichernde Weise zu vertreiben. Und so beginnt auch diese Gruppe junger Florentiner sich dort in der Diaspora Geschichten zu erzählen. Jeder Tag wird durch eine „Königin“ oder einen „König“ bestimmt. Sie geben jeweils ein Thema vor. Und jeder der zehn Beteiligten erzählt dann im Verlaufe eines Tages – am Morgen, in der glühenden Hitze des Nachmittags oder in der Dunkelheit des Abends, vor oder nach dem Essen, im Haus, im Garten oder am Fluss - eine Geschichte zum Thema. So entstehen im Laufe von zehn Tagen einhundert Erzählungen: einhundert Novellen eben. Das Dekamerone – das Zehntagewerk.

Wer alte Erzählungen mag, findet in diesem Novellenzyklus sicher die eine oder andere wunderbare Geschichte. Eine von ihnen hat besondere Aufmerksamkeit erlangt, es ist die sogenannte Falkennovelle, die 9. Novelle des 5. Tages. Sie ist, wenn es nach Paul Heyse geht, konstituierend für die Novelle an sich.

Wie definiert man eine Novelle? Im Gegensatz zu einer Kurzgeschichte oder zu einem Roman? Wo fängt eine Novelle an, wo hört sie auf, wo sind ihre Grenzen? Lyrik und Dramatik lassen sich deutlich definieren, aber innerhalb der Epik gibt es einige unscharfe Ränder. Die Form lässt sich nicht eindeutig festlegen. Deshalb hat der deutsche Dichter Paul Heyse (1830-1914 in München) auf den Inhalt verwiesen. Er nennt eine Erzählung dann eine Novelle, wenn sie symbolisch „einen Falken“ aufweist.

In Florenz lebt ein Edelmann namens Federigo. Er liebt Monna Giovanna und richtet ein Fest nach dem anderen aus, um ihre Gunst zu erlangen. Er stiftet sein ganzes Vermögen, um ihr Geschenke und seine Aufwartung zu machen. Sie aber erhört ihn nicht. Sie heiratet einen anderen, einen reichen Kaufmann, und bekommt mit ihm einen Sohn. Federigo ist mittlerweile einsam und verarmt, er hat nur noch einen einzigen Falken und lebt in einem kleinen Landhaus nahe Florenz. In seinem Herzen liebt er noch immer Monna Giovanna.

Als Monna Giovannas Ehemann stirbt, zieht auch sie aufs Land, in die Nähe des kleinen Gutes von Federigo. Aber erst zu dem Zeitpunkt, als Monna Giovannas Sohn erkrankt, und sich, um zu genesen, von ganzem Herzen den prächtigen Falken von Federigo zum spielen wünscht, geht sie zu ihm - die ihn vorher nie beachtet hat. Federigo ist erstaunt und beglückt. Monna Giovanna will bei ihm speisen. Da Federigo nichts anderes als seinen Falken besitzt, dreht er ihm kurzerhand den Hals um, und serviert ihn seiner geliebten Dame.

Erst nach dem Essen offenbart die Mutter des kranken Knaben, dass sie gekommen sei, um um den Falken zu bitten. Federigo ist untröstlich – endlich hat er die Aufmerksamkeit seiner Dame, und nun kann er ihr nicht dienen. Den Falken haben sie bereits gemeinsam verspeist. Monna Giovanna kehrt erschüttert zu ihrem Sohn zurück, nachdem sie den Falken von Federigo nicht erhalten konnte. Ihr Sohn stirbt. Und sie erwacht und erkennt, wem sie in Federigo begegnet ist. Nach einer angemessenen Trauerzeit heiraten die beiden und Federigo wird wieder ein reicher und geachteter Bürger von Florenz.

Soweit die humanistische Erzählung von Boccaccio aus der Renaissance in Florenz.

Nicht jede Novelle, die seitdem geschrieben wurde, endet in dieser Weise klassisch. Wenn aber jede gute Novelle so einen „Falken“, so eine „unerhörte Begebenheit“ (wie es Goethe nennt), so einen delikaten Wendepunkt aufweist, dann sind die Erzählungen alles andere als alt und märchenhaft, sondern modern und riskant und unüberschaubar. Ein Scheitern wird nicht ausgeschlossen und die Stringenz, Treue und Naivität, die Federigo an den Tag legt, wünsche ich manch einer literarischen Gestalt, die sonst noch durch die Weltliteratur spaziert.

Boccaccio, dem alten Italiener, gebührt, ob seines Novellenzyklus‘, noch heute ein Platz in der Weltliteratur. Den Mut zu einer Renaissance - nicht nur in der Literatur - der symbolischen Wiederauferstehung des Falken zwischen Federigo und Monna Giovanna , könnten wir, in jeder Hinsicht, heute in Mitteleuropa wieder gut gebrauchen. Vielleicht spielt die Europäische Universität - in der Via Boccaccio zwischen Florenz und Fiesole - dabei eine Rolle. Einen würdigen Ort hat sie ja gefunden, auch Pico della Mirandola (1463-1494) hat - einhundert Jahre später - in jenen Gefilden seine 900 Thesen geschrieben.

P.S. Warum nur hat Lorenzo di Medici 1473 die Universität von Florenz nach Pisa verlegen lassen?