Donnerstag, 26. November 2009

26.11.2009. Christine Ballivet

Heute vor einem Jahr ist Christine Ballivet in Lyon mitten bei ihrer Arbeit verstorben. Den ganzen Tag schon denke ich daran, einen Blog-Beitrag für oder über sie zu schreiben - denn ihr Tod hat mich sehr betroffen gemacht.

Nun habe ich im Internet eine Blogseite gefunden, die ihr gewidmet ist! Und auf dieser Seite kann man auch den Vortrag von Yeshayahu Ben-Aharon lesen, den er am 1. Juni 2007 in Colmar gehalten hat, und mit dessen französischer Übertragung Christine am Abend ihres Todes im Kreise ihrer Freunde beschäftigt war.

Vielleicht ist das Lesen dieses Vortrages eine angemessene Beschäftigung auf Erden für ihren ersten Geburtstag in der geistigen Welt.

http://www.dialogos.oslo.no/doorstodialogue/

Montag, 23. November 2009

Gedichte. Weltinnenräume

Neben der Epik und der Dramatik präsentiert die Lyrik eine andere Art der Wortkunst – ursprünglich ist sie die zum Spiel der Leier gehörige Dichtung. Letzte Woche habe ich darüber geschrieben, dass Romananfänge wie Signale wirken. Dass sie Zeichen setzen, den Blick richten und einen Weg weisen. In dem nun folgenden Text will ich beschreiben, wie es sich mit Gedichten verhält. Gedichte sind etwas gänzlich anderes und haben kein Ziel, das sie anvisieren.

Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort.

(Hilde Domin, 1993.)

Gedichte erwachsen aus der Spannung von Worten, sie erbitten Räume. Innere Räume. Herzensräume. „Weltinnenräume“ im einzelnen Menschen – so wie es Rilke nennen würde. Gedichte erklingen und erblühen im Innern, wenn die Spannung zu etwas Neuem, einer Geburt führt. Sanft oder schroff, hart oder weich, verständlich oder unverständlich, erinnernd oder hoffend, flehend oder bittend, in die Vergangenheit oder in die Zukunft weisend.

[…]
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.

Rainer Maria Rilke, aus: Die Gedichte 1910 bis 1922.
(München oder Irschenhausen, August/September 1914)

Wenn ich ein Konzert höre, ein Live-Konzert, in dem Musiker ihre Musik nach außen setzen, Klänge erklingen lassen, die sie in diesem speziellen Moment produzieren und zu verschenken haben, wenn der Raum von klingender Musik erfüllt ist, wie das nächtliche Himmelszelt von Sternen übersät ist, dann geschieht etwas. Wenn Musik erklingt, sich im Raum ausbreitet und dann verhallt, ereignet sich etwas im Hier und Jetzt. Die Zuhörer werden in einen Klangregen getaucht. Von außen. Wie in einen warmen Frühlingsregen – oder auch wie in ein stürmisches Gewitter. Klänge nähern sich dem Menschen und dringen von außen nach innen.

Noch bist du da

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben

(Rose Ausländer)

Eine entgegengesetzte Tätigkeit zum Musikhören ist die Beschäftigung mit Gedichten, die Annäherung an verdichtete Wortkunstwerke. In Gedichten klingen die Worte nicht von außen, sondern von innen. Gedichte sind Ver-dicht-ungen, sind Worte in ihrer kräftigsten und reinsten Form, die in der Lage sind, neue und gegensätzliche Welten entstehen zu lassen. Gedichte können nur im Innern des Menschen erblühen – sie haben außen keinen Stand – auch, wenn sie dunkel, verwirrend und erschütternd sind.

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends […]


(Paul Celan, 1952, in: Todesfuge.)

Gedichte lassen sich auch nicht „erklären“ – auch wenn sie dialektisch geschrieben sind und unseren „Verstand“ ansprechen. Gedichte sind auf immaterielle Türen im Innenraum „Mensch“ angewiesen, persönliche und verwundbare Eingänge, die sich individuell und ganz bescheiden öffnen. Große Tore sind für etwas anderes da – Gedichte, Wortkunstwerke in verdichteter Form – schlüpfen oft unbemerkt durch kleine Lücken und bewegen sich leise aber unaufhaltsam.

Angst und Zweifel

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel

(Erich Fried)

Gedichte können Herzen erwärmen, innere Lichter anzünden, wie Rosenknospen erblühen. Gedichte brauchen Stille und erwachen, wenn ein offener Raum für Wort-Bilder entsteht. Diese Bilder, ob schaurig oder schön, können leben, wenn Worte anwesend sind und sich ausbreiten dürfen. Klare, definierte Worte. Wenn ein Dichter ein Gedicht verschenkt, wenn er es der Öffentlichkeit übergibt, dann braucht es ihn nicht mehr. Gedichte machen sich dann, wie auch andere Textgewebe, selbstständig – sie präsentieren sich in gedruckter Form, warten und bieten sich an.

Der Leser ist es, der den Wortverknüpfungen oder -schöpfungen, wie zum Beispiel „Maschentausendabertausendweit“ von Else Lasker-Schüler, zum Leben verhilft.

Wenn klingende Musik wie ein Regen von Sternschnuppen auf den Menschen niedergeht, dann sind Dichtungen wie knospende Rosen im Herzen, die erblühen können.

Montag, 16. November 2009

Räume und Signale. Gedichte und Romane

„ Die Dinge sind alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert.“
(Rainer Maria Rilke in einem Brief an Franz Xaver Kappus am 17.2.1903 in Paris.)

Und trotzdem: Gedichte eröffnen innere Räume. Satzanfänge in Romanen geben Signale. Sie weisen in eine Richtung und zeigen dem Leser den Weg. Heute werde ich einige Romananfänge zitieren und den Leser einladen, sich davon berühren zu lassen. Mein nächster Text wird sich dann mit Gedichten beschäftigen.

„Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.“
(Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz)

Es sind weniger als dreißig Buchstaben, die uns in der deutschen Sprache zur Verfügung stehen, aber daraus können unendlich viele Worte gebildet werden, die wiederum in unzähligen Kombinationen miteinander auf der Bühne der Sprache auftreten und sich entfalten können. Sie produzieren Textgewebe, Klangteppiche, Wortbilder die in Art, Stimmung und Bedeutung nicht unterschiedlicher sein könnten.

„Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit.“ (Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert)

Viel äußere Materie ist für die Bildung von Worten nicht nötig – ob sie nun gesprochen oder geschrieben werden – aber „innere Materie“. Ohne einen Innenraum, eine menschliche Seele, die den Klang von Worten aufnimmt, die den Sinn von Sätzen annimmt, die den Worten Bedeutung gibt und ihnen ein Ankommen ermöglicht, die Verbindungen schafft und dem Wortgeflecht ein Netz bietet, ist der Dichter, der Poet, der Schriftsteller oder Publizist, der Schreiber oder Autor verloren, einsam und seine Worte zerplatzen wie Seifenblasen.

„Pst! Der Rosengarten lag noch farblos, doch schon erkennbar am Fuß der Mauer.“ (Adolf Muschg: Der Rote Ritter)

Mit Worten klopfen wir an Türen, und je nach Stimmlage, Ausdruck oder mitgeschicktem Blick, öffnen sich die Türen sanft, vorsichtig, abrupt, schnell, nur einen Spalt breit oder weit und einladend. Worte sind Brücken. Ausgespannte Regenbögen. Worte schneiden ab oder verbinden. Sind kalt oder warm. Werden schnell oder langsam gesprochen – geschrieben - gelesen.

„Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb.“
(Jurek Becker: Bronsteins Kinder)

Erinnerungen und Träume, Vorstellungen und Wünsche bekommen in der Welt der Bedeutungen durch Worte die Chance sich zu zeigen – mittelbar, mit-teil-bar zu sein. Neben den Buchstaben brauchen wir Worte und Satzgefüge, damit sich die physische Welt in allen ihren Erscheinungen abbilden lässt. Und damit die seelische und geistige Ebene vermittelbar wird.

„Noch bevor Ebling zu Hause war, läutete sein Mobiltelefon.“
(Daniel Kehlmann: Ruhm)

Worte sind wie brennende Fackeln in der Dunkelheit. Sie leuchten grell oder sanft, blau oder rot. Epische Weiten entstehen. Düfte, Klänge oder Farben mischen sich ein – auch sie: aus Worten geschaffen. Aber es kann auch Enge entstehen. Konsequenz. Ein inneres Ringen.

„Ich bin nicht Stiller.“
(Max Frisch: Stiller)

Wenn Worte still auf dem Papier ihrer Leser harren, dann sind sie auf ihre Umgebung angewiesen. Auf Satzzeichen, links und rechts, oben oder darunter stehende Bekannte, Verwandte und Freunde, auf das große Ganze, das sich ergibt, wenn Worte sich zusammentun und etwas entstehen lassen.

„Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Russland führt.“

(Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß)

Der erste Satz in einem Roman sendet Signale aus. Noch ist ganz offen, wohin sich die Erzählung bewegt. Aber mit jedem Satz wird das Muster des Wortteppichs deutlicher.

Samstag, 14. November 2009

Ein alter Tibetteppich

Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit,
Maschentausendabertausendweit.

Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küßt Dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?

Else Lasker-Schüler, 1906