Montag, 26. Oktober 2009

Herzlich willkommen auf dieser Erde - Johann sei gegrüßt!

Für Johann Maximilian Pannitschka, geb. 23.10.2009 in Berlin

Als ich von deiner Geburt hörte, dachte ich an Pico della Mirandola. Sein physisches Leben ist schon lange vergangen, aber das, was ihn beschäftigt hat, ist uns über seine Bücher, Briefe, Bilder und die Aufzeichnungen anderer erhalten geblieben. Er war ein großer Humanist, der in der italienischen Renaissance von 1463 bis 1494 in Italien zu Beginn der Neuzeit gelebt hat. Er hat - unter anderem - 900 Thesen geschrieben, die er dem Papst vorlegen wollte. Diese Thesen leitet eine Abhandlung über die Würde des Menschen ein (geschrieben 1486). Pico malt darin mit seinen Worten ein Bild des Menschen, der die höchste Verantwortung in Freiheit für sich selber trägt. Folgender Text ist daraus entnommen:

Gott spricht zum Menschen nach der Schöpfung:
" Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünscht, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünscht. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehs zu entarten. Es steht dir ebenso frei, dich in die höhere Welt des Göttlichen durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben."

Dieser Text beschäftigt mich schon lange. Der mündige Mensch, ein Bildhauer und Dichter seines Lebens, der sich selbst bestimmt und gestaltet.

Ausgehend von einem allgemeinen Verständnis eines Bildhauers, der ‚Bildwerke haut’, dem eines Künstlers, der plastische Kunstwerke aus Stein, Holz oder anderen Materialien herstellt, entsteht das Bild eines willensstarken Menschen, der das, was in seinem Inneren lebt durch äußere Formen zum Ausdruck bringt. Zu denken ist zum Beispiel an die herausragenden und formstarken Plastiken von Michelangelo (1475-1564) der in Marmor gearbeitet hat. Es lässt sich nur ahnen, welcher Wille, welche physischen Kräfte und seelischen Gestimmtheiten notwendig waren, um solche Werke zu vollbringen. Ein Schlag mit dem Stemmeisen am Marmor ist nicht mehr ungeschehen zu machen – das Absplittern des Steines kann nicht rückgängig gemacht werden. Die bildhauerische Arbeit verlangt eindeutige Formen, anschaubare Konturen.

Eine plastische Skulptur vermittelt weniger offene Vorstellungen - im Gegensatz zum Dichter, - sondern sie zeigt, wie die Verhältnisse gerade sind. Er schafft konkrete, materielle Formen die einen Ausdruck tragen. Der Bildhauer braucht konkrete Vorstellungen und einen festen Willen für seine Arbeit – sonst würde er nichts zustande bringen.

Ähnlich und doch anders ist das Bild des Dichters, er bewegt sich auf der imaginativen Ebene. Dichter sind Komponisten sprachlicher Kunstwerke. Dichten ist, mit Worten Bilder entstehen zu lassen. Dem Dichter steht die Sprache mit all ihren Variationen als Ausdrucksmittel zur Verfügung. Jeder Betrachter muss für sich das innere, seelische Bild, das ein Dichter in seinen Werken entstehen lässt, in sich selber zu Leben erwecken und Raum schaffen um es sichtbar und erlebbar machen. Dabei hat man es nur indirekt mit etwas Materiellem zu tun, sondern vielmehr mit etwas innerlich seelisch erlebbarem. Hier kann es um Rück- oder Vorblicke des Lebens gehen, um Ahnungen und Träume, um das Verarbeiten von Erlebnissen, oder um das Entstehen von Visionen.

Während die zeitliche Dimension des Bildhauers die Gegenwart ist, in der ein fruchtbarer Moment einer Figur oder Gegebenheit festgehalten bzw. sichtbar gemacht wird, befindet sich der Dichter im Spiel zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die menschliche Sprache erlaubt uns mit ihren sprachlichen Eigenschaften einen weiten Bogen von ferner Vergangenheit, zu weit vor uns liegender Zukunft, zu schlagen. Die Gedichte eines Rainer Maria Rilke (1875-1926) veranschaulichen das zum Beispiel. Innerhalb der Sprache ist es möglich Vergangenes zu reflektieren, Seinszustände zu beschreiben und Zukunftsvisionen zu malen. Der Dichter hat innerhalb der Sprache ein differenziertes und großes Spektrum sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten für Bilder und Vorstellungen zur Verfügung, die durch Rhythmus und Klang ergänzt werden.

Während der Bildhauer eine allgemeine Welt-Sprache spricht, die, kulturell bezogen, weiträumig verstanden werden kann, ist der Dichter im Allgemeinen an seine eigene Muttersprache gebunden. Übersetzungen oder Übertragungen von Gedichten mögen das zeigen: die generelle Idee des Bildes, über das der Dichter spricht, kann vielleicht in eine andere Sprache übersetzt werden, um jedoch das Bild aus Worten in seiner Tiefe und Originalität zu verstehen, muss man der ursprünglichen Sprache kundig sein.

Picos Beschreibung des Menschen, der wie ein Dichter sein Leben erdichtet und wie ein Bildhauer, sein Leben ‚behaut’, ist ein Bild für den freien Menschen. Ich wünsche dir, lieber Johann, von ganzem Herzen, dass du im Laufe deines Lebens den Bildhauer und Dichter in dir entdeckst, erweckst und kreativ nutzt.

Von Herzen, deine Tante Sophie

G. Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen (Oratio de hominis dignitate).

Montag, 19. Oktober 2009

Lehrende und Lernende. Oder: Erwachsenenbildung zwischen gestern und morgen.

Liebe Olga.
Heute möchte ich gerne unser Gespräch über eine zeitgemäße Erwachsenenbildung weiterführen. Wie du ja weißt, waren meine Erfahrungen in Stuttgart nicht sehr glücklich. Nun war ich in Alfter an der Alanus Hochschule. Ich werde meine Eindrücke zusammenfassen.

Eigentlich wissen wir es ja alle schon längst: Im 21. Jahrhundert angelangt gibt es keine allwissenden Lehrer oder Dozenten mehr, die, wie im „Nürnberger Trichter“, Wissen an ihre Schüler oder Studenten weitergeben. Und es gibt auch keine Schüler oder Studenten mehr, die sich auf so etwas einlassen. Lernende sind individuell, haben Vorerfahrungen, wissen was sie wollen und können für einen Lehrenden sehr unbequem sein. Schüler und Lehrer oder Studenten und Dozenten müssen sich neu definieren – neu aufeinander zugehen, Rollen einnehmen und Haltungen sichtbar machen. Was macht einen Lernenden im 21. Jahrhundert aus und was einen Lehrenden?

Meine Erfahrungen Jugendliche zu unterrichten reichen noch nicht, als das ich etwas darüber schreiben könnte. Aber in Bezug auf die Erwachsenenbildung wäre einiges zu sagen. Selbst als Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig, bin ich jetzt auch wieder in die Rolle einer Studentin geschlüpft. So, wie du auch diese beiden Rollen kennst. Ich will dir von meinen Erfahrungen berichten.

Das Leitbild in der Erwachsenenbildung bei NALM halte ich in Hinsicht auf die Grundhaltung der Lehrenden für heutig, passend, angemessen (konstruktivistisch würde man es „viabel“ - lebensdienlich - nennen). Es beinhaltet neben den verschiedenen Feldern, auf denen sich „Bildung“ im weitesten Sinne ereignet, drei Haltungen, die der Lehrende je nach Situation einnehmen kann.

Er ist zunächst derjenige, der Lernprozesse möglich macht, also ein Setting anbietet, inhaltliche Angebote macht, einen Weg skizziert und sich selbst mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen zur Verfügung stellt, er schafft Möglichkeiten. In der Erwachsenenbildung nennt man ihn deshalb den „Möglichmacher“ oder weiter gefasst, den „Lern(prozess)begleiter“ für diejenigen, die etwas lernen wollen.

Auf einer anderen Ebene ist der Lehrende genauso ein Mensch, wie der Lernende auch. Er ist ein „Mitmensch“, der Gefühle und Bedürfnisse hat, Erfolgs- oder Mißerfolgserlebnisse durchläuft, der „mal gut“ und „mal nicht so gut“ drauf ist. Er setzt sich aus seinen Erfahrungen und Erlebnissen zusammen, seinen Erwartungen und Hoffnungen. Auch diese Ebene kann einen Platz zwischen Lehrenden und Lernenden haben.

Ja und dann gibt es noch die Ebene des Faches. Ein Lehrender vertritt eine Disziplin, er ist Vertreter eines Faches, er ist ein Fachmann auf seinem Gebiet. Zu seinen Aufgaben gehört es in dieser Beziehung, die Grundlagen und Grundfragen darzustellen und erlebbar zu machen. Darüber hinaus ist es aber gut möglich, dass der Lernende im Laufe der Zeit fachlich über den Lehrenden hinaus geht. Die dritte Haltung nennt man deshalb den „Diener“ in Bezug auf das Fach.

In den letzten zehn Tagen habe ich meine ersten Erfahrungen als Studentin an der Alanus Hochschule gemacht und ich muss sagen, dass ich von dem Miteinander zwischen „Lehrenden und Lernenden“ in Bezug auf Angebot, Atmosphäre und Fachkompetenz sehr angetan bin. Die Dozenten sind mir als Möglichmacher, Mitmenschen und Diener (ihres Faches) begegnet. Als Lernende fühlte ich mich geachtet, anerkannt und erwünscht. Denn: ohne Lernende auch keine Lehrenden. Mein fachlicher Wissensdurst wurde gestillt und die Seminargestaltung ließ alle Beteiligten sich ernsthaft, frei, konstruktiv und alltagstauglich einbringen.

Die Alanus Hochschule nimmt den Diskurs mit der heutigen Zeit und somit der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts, also mit uns als Zeitgenossen auf. Im Fachbereich Bildungswissenschaften kann man einen (offiziell anerkannten!) Master in Pädagogik machen, der den Schwerpunkt Waldorfpädagogik und Reformpädagogik beinhaltet. Eingebettet ist dieser Studiengang in den Diskurs der Erziehungswissenschaft, der an anderen (normalen) Hochschulen „gelehrt“ wird. Einig ist man sich in dieser Hinsicht, dass die Praxis der Waldorfschulen hoch anzuerkennen ist, die Theorie jedoch den heutigen wissenschaftlichen Maßstäben nicht genügt.

So ist die Alanus Hochschule bereit, das Werk Steiners kritisch zu untersuchen. Sie weiht die Studenten nicht in Mysterien ein, sondern lädt sie ein, sich eigenverantwortlich und kritisch auf Texte einzulassen, die die Ideen, Gedanken und Überzeugungen Steiners darstellen. Die Lernenden übernehmen die Verantwortung dafür, was und wie sie lernen. Obgleich es natürlich auch an dieser Hochschule ein Modulhandbuch gibt und gewisse Kriterien erfüllt sein müssen, sind es doch die Lernenden, die ihre Fragen einbringen und somit zu Mitgestaltern werden. Auf der Ebene des Möglichmachens, des Mitmenschlichen und der Weiterentwicklung des Fachlichen.

Im Gegensatz zur Universität Tübingen, wo ich das Fach Erziehungswissenschaft studiert habe, stellt man an der Alanus Hochschule pädagogische Grundfragen – und versucht sie auch individuell zu beantworten. Jegliches pädagogische Handeln hängt vom individuellen Menschenbild der Beteiligten ab. Ob ich den Menschen, nach dem gängigen wissenschaftlichen Bild als „biologischen Roboter, Produkt der Gene, der zufälligen Evolution und des sozialen Milieus“ ansehe oder ihn als entwicklungsfähigen Menschen nehme, der Entwicklungsgesetzen und –schritten unterliegt und eine Entscheidungsspanne (auch Freiheit genannt) zwischen Gut und Böse zur Verfügung hat, ist ein großer Unterschied.

Dies sind menschliche Grundfragen, denen sich Lehrende und Lernende immer wieder stellen können. Daraus erwächst eine eigenständige Urteilsbildung. In Bezug auf die Überlebenschancen des steinerschen Erziehungsimpulses geht die Alanus Hochschule mutige Wege. Sie stellt sich mit ihren Inhalten und Wegen der Zukunft. Ein interessanter Studienort!

Herzlich, Sophie

Montag, 5. Oktober 2009

Parzival im Netz. Oder: Ich und die Anderen

Wenn die Parzival-Geschichte verfilmt würde (was hoffentlich niemals geschieht!) dann würden die Übergänge zwischen den einzelnen Szenen sicherlich von den Ritten Parzivals auf seinem Pferd geprägt sein. Parzival reitet von Station zu Station durch die Zeit – er lässt sich von seinem Pferd führen, denn er lenkt es nicht. Wolfram von Eschenbach betont immer wieder, wie weit, wie schnell und wie gut Parzival reitet. Der Held auf dem Pferd – das ist das verbindende Element zwischen den verschiedenen Ereignissen auf horizontaler Ebene. Parzival reitet mit wehender Mähne seiner Zukunft entgegen.

Auf vertikaler Ebene werden die Ereignisse von anderen Elementen geprägt – nicht von Pferden, die auf der physischen Ebene die Transportmittel von Event zu Event darstellen, sondern durch Begegnungen mit verschiedenen Schicksalsgenossen. Diese Begegnungen lassen sich natürlich auch in eine zeitliche Kategorie hineinstellen, da sie nacheinander geschehen, sie haben aber weniger mit einem chronologischen Ablauf im Zeitstrom, als mit Höhen und Tiefen in der inneren Entwicklung des Helden zu tun.

Den Schnittpunkt zwischen den horizontalen Ereignissen und den vertikalen bildet die Mitte Parzivals, seine Seele. Gerade diese Ebene, die des sozialen Miteinanders, hat der „Held“ zwischen dem geistigen Strom (er ist durch seine Mutter ein Angehöriger der Gralsgesellschaft) und dem physischen (er ist, wie sein Vater, ein Artusritter) die ihm beide mitgegeben sind, auszubilden.

Was wäre Parzival ohne seine Mitmenschen – ohne das Leid, das ihm zugefügt wurde, ohne die Kränkungen, die Schmerzen, die Sünden, Fehler und Versäumnisse? Aber auch ohne die Hilfe, den Glauben an ihn, die Liebe, die Sühne, die Begegnung mit ihm? Das „Glück“ seiner Entwicklung ist ja, dass er nie weiß, was kommt, dass aber immer etwas kommt. Und das er auch gar nicht weiß, was er „will“ – die Zukunft ist ihm verschlossen, er hat keine Vorstellung davon –aber er ist mit wehender Mähne unterwegs.

Wenn man die Geschehnisse zurückverfolgt – also die ganze Entwicklung überblickt – dann fallen bestimmte Figuren auf, die eine besondere Bedeutung für das innere Leben des Helden haben. Erst im Laufe der Geschehnisse wird das Netz sichtbar, in dem sich Parzival bewegt. Zunächst hat er ja keinen anderen Ansprechpartner als seine Mutter. Damit etwas passiert, etwas in Bewegung kommt, braucht es andere Faktoren, neue Herausforderungen, Fragen und Gegebenheiten – Figuren stellen sich ihm in den Weg.

Je nach Blickwinkel, bekommen die verschiedenen Figuren Zuordnungen, die sichtbar machen, was Parzival ihnen verdankt, was er an oder mit ihnen lernt, wie er seinen Weg durch sie geht – und auch, was sie in ihm herausfordern. Mit diesem Blickwinkel fallen folgende Figuren in ihrer Rolle für Parzival auf:

Ermöglichungsfiguren: Herzeloyde und Gahmuret. Der Held braucht Eltern. Ohne sie kann er nicht auf der Erde leben. Seinem Vater begegnet Parzival nie. Denn der will dem mächtigsten Herrn auf Erden dienen und zieht in den Orient – um dort zu sterben, bevor Parzival geboren wird. Aber er hinterlässt seinem Sohn ein Erbe: den Mut zum Aufbruch, zur Suche nach sich selbst. Herzeloyde, als ängstliche, alleinerziehende Mutter versucht den Knaben vor der Welt zu schützen, damit er nicht so werde wie sein Vater: tot und ein Held. Aber gerade die Welt sucht Parzival – und so zieht er davon.

Leit- und Opferfiguren: Titurel, Jeschute und Ither. Titurel ist der erste Gralskönig auf Erden. Er hat sein Amt an seinen Sohn Frimutel abgegeben, der jedoch bald verstorben ist. Nun ist Anfortas der leidende Gralskönig. Um zu sterben, muss der greise Titurel warten, bis ein würdiger Nachfolger das Amt übernimmt. Titurel „leitet“ Parzival. Damit aber Parzival „ausgebildet“ wird, etwas lernt, muss er etwas tun, sich in das Leben hineinstellen. Und so führen die missachteten Bedürfnisse des aufbegehrenden Parzivals zu Taten, die er später sehr bereut. Ein Überfall auf eine begehrliche Frau, ein Totschlag für die rote Rüstung. Jeschute und Ither „opfern“ sich, um Parzival Erfahrungen zu ermöglichen, die Vorboten für spätere Herausforderungen sind und wegweisend für ihn werden.

Lehrerfiguren: Gurnemanz und Trevrizent. Zwei weise Männer bieten dem Ungestümen und Verzweifelten an, ihm ihr Wissen weiterzugeben. Die Lehre Gurnemanz‘ bleibt äußerlich, Parzival kann sie noch nicht individualisieren. Anders ist das am Ende der Geschichte beim Karfreitagsgespräch mit Trevrizent. Parzival hört die Schuld, kennt seine Sünden und geht über seinen Lehrer hinaus, der keinen anderen Weg als die Buße sieht. Parzival macht sich die Lehren zu Eigen, führt sie fort und überwindet die althergebrachten Ge- und Verbote.

Signalfiguren: Sigune und Kundrie. Dreimal begegnet Parzival Sigune im Wald um die Gralsburg. Das erste Mal sitzt sie mit ihrem toten Geliebten unter einer Linde, das zweite Mal in der Baumkrone und das dritte Mal hat sie sich in einer Klause einmauern lassen. Jedes Mal gibt sie wichtige Informationen weiter (wie zum Beispiel seinen Namen!), die Parzival eigentlich zur Verfügung stehen müssten. Und als Kundrie Parzival vor dem Artushof verflucht, und später seine Gralsberufung kund tut, spricht sie das aus, was sich in seinem Gewissen regt.

Helfer- und Orientierungsfigur: Iwanet und Artus. Iwanet ist ein Knappe von Artus. Er hilft dem unbeholfenen Parzival die Rüstung Ithers anzulegen und somit eine neue (äußere) Identität anzunehmen. Im Laufe der Geschehnisse hat er immer wieder mit der Kleidungsänderung des Handlungsträgers zu tun. Artus ist König und Kraft seines Amtes befähigt, Urteile zu fällen. Gerade das macht er aber in Bezug auf Parzival nicht. Er ist sowohl beim Totschlag Ithers dabei, als auch bei der Verfluchung Kundries. Artus präsentiert sich auf der physischen Ebene als „Orientierungspunkt“ für Parzival – auf der Gegenseite zum Gralskönig Anfortas, der die geistige Ebene repräsentiert.

Träger- und Gegnerfiguren: Condwiramurs und Lähelin. Condwiramurs ist die einzige Figur, die Parzival nie in Frage stellt. Auch sie eine alleinerziehende Mutter - wie Herzeloyde - jedoch voller Vertrauen, Anerkennung und Wertschätzung dem Helden gegenüber. Sie gibt, was sie geben kann und nimmt, was sie bekommt. Anders ist das mit Lähelin. Er hat es auf die Ländereien des Protagonisten abgesehen. Da er sich aber „nur“ auf der physischen Ebene bewegt, und Seele und Geist nicht erreichen kann, ist er eine marginale Bedrohung.

Freund- und Bruderfigur: Gawan und Feirefiz. Gawan wird wie ein lichter Spiegel des Helden präsentiert. Er taucht meistens dort auf, wo Parzival nicht ist. Physisch ist er ihm selten nah, seelisch aber umso mehr. Als Parzival in bitterster Bedrängnis in die „Blutstropfenszene“ gerät, ist er derjenige, der ihn „erkennt“ da er wie sein Bruder ist. Sein „echter“ Bruder, Feirefiz, wird zum Maß der Integrität, als die beiden miteinander kämpfen und sich, kurz vor einer Katastrophe, über den gemeinsamen Vater gegenseitig annehmen. Gawan und Feirefiz, zwei Brüder, einer seelisch und der andere physisch.

Erkenntnisfigur oder Zielfigur oder Aufwachfigur oder Alles-in-allem-Figur: Anfortas. Anfortas stellt sich für den Schmerz zur Verfügung. Selber die Gralsregeln verfehlt, ist er darauf angewiesen, dass Parzival die eigene Verwundung, die Verfehlung am Anderen, das Dunkle in der Welt erkennt und anerkennt. Dadurch kann er geheilt werden. Eine physische Wunde wird durch seelische Anteilnahme und geistige Erkenntnis der Zusammenhänge geheilt. Auf die Heilung Anfortas‘ ist der Weg Parzivals ausgerichtet. Hier findet das mitmenschliche, soziale Wunder statt.

Und das mitmenschliche, soziale Wunder kann sich nur zwischen den Figuren ereignen - der eine braucht den anderen. Parzival wäre nicht Parzival, wenn er nicht sein Schicksalsnetzwerk - mit jeder einzelnen Figur! - um sich hätte, um daran zu wachsen.

Das Netz in Parzival.
Oder: Die Anderen und Ich.