Montag, 28. September 2009

„Lerne das Gefundene zu behandeln als das Gesuchte.“ Adolf Muschg und seine „Kinderhochzeit“

Die Kunststiftung Hohenkarpfen hat zu ihrer Mitgliederversammlung (25.9.2009) zum 25-jährigen Bestehen ihres Vereins im ehrwürdigen Sitzungssaal des Rathauses Donaueschingen offiziell eingeladen. Nach den zügig vorgetragenen und rundherum positiven Regularien hatte die Stiftung einen renommierten Autor eingeladen um aus seinem letzten Werk zu lesen.

Somit habe ich den Schweizer Adolf Muschg zum dritten Mal aus seinem Buch „Kinderhochzeit“ lesen hören. Jedes Mal wählt er eine andere Stelle aus, jedes Mal holt er die Figuren in den Raum und jedes Mal berührt es mich, mit welcher Innerlichkeit er seine eigenen Worte vorträgt. Worte, die sich gebildet haben, dann auf das Papier gebannt wurden und sich nun wieder von der schriftlichen Form durch eine Lesung in eine mündliche Wiedergabe verwandeln. Der große Vorteil, wenn Worte gesprochen werden ist ja, dass sie einen deutlicheren Klang, einen Geschmack mitliefern.

Wenn man die Namen der beiden Protagonisten des Romans bei google eingibt, bekommt man zwei markante Ergebnisse: Bei „Klaus Marbach“ stößt man sofort auf eine Menge „realer“ Personen, die dies und das, da und dort vertreten, gemacht haben oder tun wollen. Wenn man aber „Manon de Montmollin“ eingibt, landet man direkt in der „Kinderhochzeit“ von Muschg.

Dies ist symptomatisch für den gesamten Roman. Es ist das Leitmotiv. Geschichte und Literatur tun sich zusammen. Es geht um Reales und Fiktionales, Gewesenes und Erdachtes, Mögliches und Unmögliches. Klaus und Manon gehören in das Netzwerk des Autors, so wie du und ich. Auf der Ebene der Geschichten gibt es da keinen Unterschied, ob es sich um literarische oder reale Figuren handelt. Der Anlass für das Buch ist ein dunkles Kapitel. Es ist nur ein Buchstabe, der Geschichte von Geschichten trennt.

In Muschgs neuem Roman geht es um Grenzen. Auf allen Ebenen. Symbolträchtiger Ort des Geschehens ist eine Stadt Nieburg, die durch den Rhein geteilt wird. Die eine Seite ist schweizerisch, die andere deutsch. Was hat sich hier in der Nazizeit abgespielt? Wer trägt „Schuld“, wer ist „Opfer“, wer hat hingeschaut, wer weggeschaut, wie geht man mit dem eigenen Gewissen um – und, was ist überhaupt passiert?

Nicht immer kann jemand, der schreiben kann, auch reden. Adolf Muschg ist aber so jemand – er kann reden, und wie! Seine gesprochenen Worte unterscheiden sich von seinen geschriebenen kaum. Und das bedeutet, dass sie die gleiche Quelle haben. Er ist als Autor und Zeitgenosse der Knotenpunkt für das, was im Roman und auch sonst gesagt werden muss: etwas über die Geschichte von Figuren, von Orten und von Unternehmungen.

Im Donaueschinger Rathaus steht Muschg souverän am Pult und spricht und liest immer im Wechsel – nicht anders als die Redner vor ihm, die Zahlen und Dankesworte, zwecks Abarbeitung ihrer Mitgliederversammlung, vorgetragen haben.

Im Folgenden ein paar Worte über den Inhalt, obgleich gerade der verschlungen ist und nur einen Teil des Textgewebes ausmacht. Da ich den umfangreichen Roman aber gelesen habe, kann ich über das, was vorgetragen wurde hinausgehen: Den Rahmen der Erzählung bildet das Jahr 2003. Sie beginnt in der Neujahrsnacht in Istanbul - Klaus Marbach wird von seiner Frau Manon de Montmollin mit einer unerwarteten Nachricht überrascht. Die Erzählung endet ein Jahr später mit Klaus’ Tod. Aber das ist nur einer von vielen ineinander greifenden Strängen der Erzählung, nur eine Perspektive, die dem Leser angeboten wird.

Genauso könnte man sagen, dass sich die Erzählung über den Zeitraum von zwei Generationen erstreckt und davon handelt, wie die eine aus der anderen hervorgeht. Es geht um Gewissensfragen und um Spuren, die Taten, Ideen und Menschen hinterlassen. Die Erzählung beginnt wie ein Krimi: mit einem Mord der aufgeklärt werden muss. Wie konnte es in unserer zivilisierten Welt dazu kommen?

Väterlose Söhne spielen für das Geschehen eine Rolle, millionenschwere Erben tauchen auf, verschiedene Ehen verbreiten einen Hauch der Unzulänglichkeit um sich, Grenzen und Grenzstädte setzen Zeichen: Rheinfelden, Görlitz, Berlin und ein Bild aus dem Jahr 1949, eben das, das Kinderhochzeit genannt wird, greifen ineinander.

Auch geht es um die Ehe von Imogen Selber-Weiland und Iring Selber sowie deren Tod 2003. Neben dem Auftritt des Herrn „Selber“ kommen die Bemühungen eines Herrn „Nicht“ dazu, der gerade in seinem Fall für Klaus Marbach unschätzbare Recherche-Dienste leistet. Die Namensgebung leistet da interessante Interpretationsansätze. Es gibt viele Spuren, Stränge und Wege durch den Roman, der Inhalt lässt sich hier nur unzulänglich zusammenfassen – er will gelesen sein.

Obgleich Klaus Marbach ein wichtiger Protagonist ist, muss sich der Leser darauf einlassen auch vieles von anderen Figuren zu erfahren, allerdings ohne ihre Gesamtgeschichte zu überschauen - sofern so etwas überhaupt möglich wäre. Klaus’ Ende gar wird durch das Erleben seiner um ihn bangenden, sich von ihm scheiden lassenden Frau erzählt - und sie weiß, naturgemäß, nicht viel von ihm. So bleibt am Ende der Erzählung eine Hoffnung: „Die Antwort will nicht gesucht sein, sie findet sich. Sie findet dich.“

Adolf Muschg versteht es in seinem Roman ein spannendes Beziehungsnetz aufzubauen und die Hauptfiguren zu verfolgen, die nicht weniger Relevanz im Donaueschinger Rathaus haben, als die Zuhörer. Er hat mit seinem Roman Tatsachen geschaffen – genau so, wie die Verantwortlichen der Kunststiftung Hohenkarpfen. Er hat das Motiv entschlüsselt, das sich Klaus Marbach als Lebensmotto gesetzt hat: „Lerne das Gefundene zu behandeln als das Gesuchte“.

Adolf Muschg: Kinderhochzeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2008
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Montag, 21. September 2009

Der Blick nach vorne und zurück

In jedem Moment unseres Lebens stehen wir auf einem Kreuzungspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Begriff der Gegenwart ist elastisch und nicht auf eine bestimmte Zeiteinheit begrenzbar. Von einem Tag zum anderen - von der Vergangenheit durch die Gegenwart - hinterlassen wir Spuren, die aus der Vergangenheit kommen und uns in die Zukunft führen. Physisch stehen oder laufen wir immer auf dem uns eigenen Kreuzungspunkt und können nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein. Auf der seelischen und geistigen Ebene ist das anders. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und haben Pläne für die Zukunft.

Der Blick auf unser eigenes Leben hängt von der Perspektive ab und die Bewertung unserer Taten und dem, was wir unterlassen haben, ändert sich je nach Standpunkt. Es mag da einiges geben, was uns gefällt, auf das wir stolz sind oder für das wir uns schämen, das wir wiederholen oder vermeiden wollen. Diese Perspektive lässt sich auch einnehmen, wenn wir nach vorne, in unsere Zukunft schauen. Dort sind die Dinge noch nicht fest – noch nicht vergangen – sondern vage, offen und möglich – eben zukünftig.

Wie verhalten sich aber Vergangenheit und Zukunft zueinander – oder sollte ich lieber schreiben: Wie tanzen die beiden miteinander, so dass für uns ständig eine Gegenwart mit neuen Möglichkeiten entsteht? Wer hängt eigentlich von wem ab, oder anders gesagt: In welchem Verhältnis stehen diese Orientierungspunkte zueinander – wie kreiert sich der gegenwärtige Zeitstrom zwischen Vergangenheit und Zukunft?

Einerseits ist die Zukunft immer offen - eben noch unsichtbar - und andererseits schwimmt sie im Strom von Vergangenheit und Gegenwart, um sich daraus selbst zu gebären. Vergangene Tatsachen lassen sich nicht tilgen – die Einbettung in eine Bewertung ist aber variabel und hängt von der Perspektive ab, die wiederum mit dem Strom der Zeit immer wieder andere Knotenpunkte des Lebens als Standorte möglich macht. Bedeutung hängt also vom Standpunkt im Netz der Geschehnisse und der Beteiligten ab.

Das Geschenk von Lebenserinnerungen, Autobiographien und Memoiren aller Art, die die Lebensgeschichte eines Menschen betreffen, ist immer der rückwärtsgewandte Blick. Was ist gewesen, wie ist es gewesen, warum hat sich etwas so und nicht anders ereignet, kurz, in welche Umstände war der jeweilige Lebenslauf eingebettet. Wir erfahren etwas über Möglichkeiten, Notwendigkeiten, Herausforderungen und Unmöglichkeiten. Die Aufmerksamkeit ist auf die Vergangenheit orientiert. Was die selbstverfassten Biographien nicht bieten, ist der gesamte, umfassende Blick auf ein Leben, denn geschrieben wird – wie lange auch immer – vor dem eigenen Tod, die Perspektive ist also persönlich und „beschränkt“. Ganz anders sieht es aus, wenn ein Außenstehender auf das entsprechende Leben blickt und sich zu den verschiedenen Kreuzungspunkten äußert – oder wenn der Standpunkt ein nachtodlicher ist.

Laut Rudolf Steiner, und anderen geisteswissenschaftlichen Forschern, erlebt der Mensch nach dem Tod eine Rückschau auf sein eigenes Leben. Und zwar auf das gesamte Leben. Auf alles. Ausnahmslos. Die eigene Perspektive ist dann in Bezug auf die eigenen Lebenstatsachen endgültig. Was getan wurde, wurde getan, was nicht getan wurde, wurde nicht getan. Definitiv.

Die Bewertung des Vergangenen könnte aber noch einmal ganz anders ausfallen, als die, die im Leben vorgenommen wurde. Worauf kommt es – mit dem Blick des Nachtodlichen – im Leben eigentlich an, worauf ist die Orientierung für einen selbst und Außenstehende in Bezug auf die Geburt einer neuen Zukunft gerichtet?

Carl Djerassi hat in Bezug auf dieses Thema ein interessantes Buch herausgebracht. Er wagt den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft. Er lässt vier jüdische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die sich fast alle im Leben kannten, einander nachtodlich (auf dem Parnass) treffen. Es handelt sich dabei um die Philosophen Walter Benjamin (siehe Blog vom 21.6.2009) und Theodor W. Adorno (Frankfurter Schule), den Religionshistoriker Gershom Scholem und den Komponisten Arnold Schönberg.

Sie treffen posthum aufeinander – übrigens mit ihren Frauen – und sprechen über „Unerledigtes“, „Ungeklärtes“, „Unbekanntes“ oder schlicht über das, was eigentlich im Leben noch hätte geklärt, erklärt, abgeklärt, aufgeklärt oder verklärt werden können. Sie sprechen über das, was im Leben nicht gesagt wurde, was sie einander im Leben explizit nicht gesagt haben, nicht sagen konnten oder wollten. Über das, was sie nicht getan haben. Auch das, was sich nach dem Tod der Einzelnen politisch oder im privaten Umkreis ereignet hat, wird in der posthumen Unterhaltung thematisiert.

Ihre Gespräche kreisen um Themen, die ein außenstehender Biograph nicht beurteilen kann. Sichtbar ist lediglich, dass es „Lücken“, „Ungereimtheiten“, „Brüche“ oder schlicht „Fragen“ gibt. Und genau darüber lässt Djerassi die vier Männer miteinander reden. Quellen für diese Gespräche sind Briefe, Hinterlassenschaften, Berichte von Freunden, Texte und eben Lebenstatsachen. Djerassi beteuert, dass er nichts „erfunden“ habe, sondern lediglich seine „Funde“ zusammengesetzt habe. Er hat eine ungewöhnliche Perspektive eingenommen. Er hat das Herz Fragen zu stellen und bietet mögliche Antworten an. Dies geschieht auf eine Weise, dass die Beteiligten zwar mit ihren Schwächen oder Unzulänglichkeiten konfrontiert, jedoch nicht verurteilt werden. Es geht dabei um sehr menschliche Fragen, die sich auch unter der Überschrift „Die Verwirrungen des eigenen Lebens“ subsummieren lassen könnten.

Wenn Walter Benjamin in seinen Briefen an Gretel Adorno vom Sie zum Du und manchmal wieder zum Sie wechselt, hat das eine Geschichte. Einen Grund. Diese Gründe kennt niemand anderes als die beiden Betroffenen. Und es ist auch eine berechtigte Frage, ob diese delikate Tatsache überhaupt jemand anderen etwas angeht. Wenn man aber die veröffentlichten Briefe der beiden liest (und auch das ist natürlich eine Frage, ob so eine Veröffentlichung eigentlich „rechtens“ ist), dann können die benannten Feinheiten schon auffallen.

Djerassi ist nun so mutig und bietet ein Gespräch der Betroffenen über solche persönlichen Dinge an, er macht möglicherweise etwas aus der nachtodlichen Verarbeitung sichtbar. Durch die Worte der Betroffenen macht er mögliche Gründe der persönlichen Taten bzw. Unterlassungen erlebbar – und bewegt sie damit. Er lässt die Beteiligten über Dinge sprechen, auf die es möglicherweise im Leben angekommen wäre – was aus der Perspektive des Nachtodlichen möglich ist, und nur des Nachtodlichen.

Aus so einem Rückblick auf die Vergangenheit lässt sich erahnen, wie sich die Zukunft immer wieder neu gestaltet – auch über ein Leben hinaus.


Carl Djerassi: Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch - Benjamin, Adorno, Scholem, Schönberg. Haymon Verlag, Innsbruck 2008.

Dienstag, 15. September 2009

Lernen vom Leben. Oder: Karma macht das Leben groß

Wenn wir geboren werden, haben wir keine Kleider an. Haben keinen Besitz, keine „Erfahrungen“, wissen uns nicht zu benehmen, sind ungebildet und komplett auf die Fürsorge von Mitmenschen angewiesen, die uns ins Leben begleiten. Auch wenn wir sterben, verlassen wir die Erde ohne materielles Gepäck. Dazwischen aber, zwischen den beiden großen Tagen der Geburt und des Todes, sammeln wir so alles Mögliche an. Wir lernen unendlich viel. Abgesehen von materiellen Dingen, die unser Leben äußerlich begleiten, sind es im Wesentlichen die inneren Erfahrungen und Erlebnisse, die uns durch die Wirrnisse des täglichen Lebens führen.

Die Annahme, dass wir „vom Leben“ am meisten lernen - mehr und ganz andere Dinge, als in Schulen, Universitäten oder anderen offiziellen Bildungseinrichtungen - ist weit verbreitet. Oft sind es gerade Krisen, schwierige Situationen oder besondere Lebensumstände, die dazu führen, dass wir etwas lernen: uns verändern, Fähigkeiten entwickeln, neue Standpunkte einnehmen oder die Welt aus einem erweiterten Blickwinkel anschauen.

„Lernen“ birgt die Offenheit, etwas Neues, Anderes, Unerwartetes an uns heranzulassen und uns neu, anders oder unerwartet zu positionieren. „Lernen“ ist - genauso wie leben - immer ein Ereignis. Vieles läuft dabei unbewusst ab und gar nicht immer ist das „Lernen“ mit Anstrengung, Überwindung oder Belastung verbunden. Auffällig ist aber, dass jeder anders und etwas anderes lernt, dass das Leben eines jeden Menschen unterschiedlich verläuft und ganz andere Lernmöglichkeiten oder auch Herausforderungen birgt.

Das Leben spricht also unterschiedliche Sprachen. Wir nennen es gemeinhin Sozialisation, was zu diesen Unterschieden führt. Der eine wird in eine große Familie hineingeboren, der andere lebt mit seiner Mutter allein, der eine macht Reisen und lernt die Welt kennen, der andere kommt kaum aus seinem Landstrich heraus, jemand wächst in einer Großstadt auf oder auf dem Dorf. All diese Unterschiede ließen sich beliebig erweitern.

In spirituellen Kreisen spricht man weniger von Sozialisation, dort wird der Begriff in „Schicksal“ transformiert.

Welches Wort man auch immer wählt, gibt es einen Sinn hinter den Unterschieden? Oder ist das alles Zufall (das, was einem zu-fällt?) – mit dem einen hat es Gott gut und mit dem anderen ein bisschen bescheidener gemeint? Wie lassen sich die Unterschiede begründen, verantworten, ja, wie halten wir die Tatsache aus, dass es so unterschiedliche Startbedingungen ins Leben und Gegebenheiten durchs Leben gibt? Wo liegen die Quellen für diese Unterschiede?

Fragen sind aber nicht nur die unterschiedlichen Startbedingungen, sondern auch die unterschiedlichen Lebensmotive, -haltungen, -möglichkeiten, -anforderungen, schlicht die Art und Weise wie wir im Leben stehen. Anders ausgedrückt: Durch was konstituiert sich konkret die Individualität des Individuums – durch Sozialisation?

Jeder Mensch reagiert individuell, speziell und in seiner eigenen Art und Weise auf Ereignisse. Auch wenn verschiedenen Menschen „das Gleiche“ passiert, so ist damit noch nicht die Bedeutung, der Klang, die Konnotation genannt, die das Geschehen für den Einzelnen hat. Wie lässt sich das verstehen? Wie lässt sich die Individualität eines Menschen begründen, wenn sie über den Sozialisationsgedanken (und natürlich die entsprechende Bildungsgeschichte) hinausgeht?

Eine Möglichkeit ist der Gedanke der Wiedergeburt, des Lernens und sich Entwickelns über eine Inkarnation hinaus. Das Wort „Karma“ hat heute Konjunktur und ist ein schillernder Begriff. Es kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „Rad“. Und ein Rad ist ein Symbol für die Unendlichkeit. Es hat keinen Anfang und kein Ende, aber es dreht sich fort und fort - es symbolisiert eine fortwährende Bewegung.

Karma setzt den Gedanken der Reinkarnation voraus. Wenigstens als Hypothese - sonst ist mit ihm nichts anzufangen - denn die Überlegungen über Karma gehen über ein Leben hinaus: Es handelt sich um den großen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Zwischen Taten und Folgen. Um das, was entsteht, wenn ich mich – auf längere Sicht – so oder so verhalte. Der Begriff des Karmas ist also eng an die Individualität des Menschen geknüpft und geht von der eigenen Gestaltbarkeit des Lebens - eben über mehrere Inkarnationen hinaus - aus. Neben den offenen Chancen, die dieser Gedanke mitbringt, und ganz im Gegensatz zur Beweglichkeit eines Rades, wird der Begriff Karma im zwischenmenschlichen Leben heute aber auch oft mahnend oder sogar drohend gebraucht - denn wir kreieren unser Leben, unser Schicksal und damit auch unser Karma selber. Die eigene Verantwortung gehört also genauso wie das individuelle Gespür für sich selber dazu.

Der Gedanke des Lernens vom Leben arbeitet mit der Eigen-artigkeit des Individuums (wir sind nicht alle gleich) und er beinhaltet die Idee der Entwicklung (was nicht ist, kann noch werden). Jede meiner Taten hat Folgen – die ich aber nicht unbedingt kenne – und jedes meiner Erlebnisse hat eine Vorgeschichte – die auch aus einem anderen Leben stammen kann. So, wie die Identität eines Menschen auf dem Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht, bietet mir das Leben eine ganze Reihe von Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten an. Und das alles macht nur Sinn, wenn es wiederholte Chancen gibt.

Der Idee von Karma und Schicksal macht das Leben groß. Und es macht es abenteuerlich, denn wir überschauen die großen Zusammenhänge und menschlichen Netzwerke natürlich nicht bewusst. Das Leben selber wird zum Lehrmeister – denn wer könnte mich sonst über mein eigenes - so individuelles - Schicksal unterrichten? Wenn wir die vielen, kleinen Bemerkungen des Lebens zu lesen vermögen, können wir das, was aus der Vergangenheit transformiert werden will bearbeiten und uns die Fähigkeiten, die die Zukunft von uns fragt erlernen.

Der Gedanke von Reinkarnation und Karma stiftet Sinn. Lebenssinn. Und die eigene biographische Entwicklung lehrt uns das, was die offiziellen Bildungseinrichtungen nicht zu unterrichten vermögen. Am Ende des Lebens lassen sich nur die immateriellen Güter mit in einen geistigen Zustand überführen – die irdischen Kleider bleiben auf der Erde zurück.

(Fortsetzung folgt.)

Montag, 7. September 2009

Der Ruhrpott. „Orpheus tritt im Schacht und unter Tage auf.“

„Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt! Ist es besser, viel besser, als man glaubt! Bochum ich komm' aus dir! Bochum ich häng' an dir!“ singt Herbert Grönemeyer – und ich schließe mich ihm mit Freude an. Über zwanzig Jahre habe ich im Herzen des „Reviers“ gelebt und freue mich über den Stolz und die Herzlichkeit, mit der Grönemeyer - und nicht nur er - die Stadt Bochum mit ihren umliegenden Städten „tief im Westen“ noch immer besingt.

Das Ruhrgebiet, DAS Synonym für Industrie im Westen Deutschlands, wird nach der Ruhr, einem Seitenarm des Rheins, benannt und steht heute für eine bizarre Verbindung und interessante Spannung von Natur und Kultur, denn das Wort „Industrie“ steht stolz zwischen den beiden. Das Ruhrgebiet ist der größte Ballungsraum in Deutschland und die ungefähr fünf Millionen Einwohner des Kerngebiets leben in einem Verbund von Städten die ineinander übergehen. Bochum, Dortmund, Essen, Duisburg, Castrop-Rauxel, Bottrop – um nur einige Städte zu nennen.

Das Ruhrgebiet ist eine Gegend, ein Landstrich in Deutschland, in den die Menschen mit ihren Bedürfnissen tief eingegriffen haben. Ja, sie haben die Erde geöffnet und Unmengen an Kohle entnommen. Das Schwarze Gold. Schon im 13. Jahrhundert hat man in Witten im Muttental Kohle „gekratzt“ – aber besonders im 19. Jahrhundert war „der Kohlenpott“ von unendlich vielen Zechen geprägt. Es heißt, dass es einmal über 3000 gewesen sein sollen. Der Bergbau hat mit seiner Arbeit unter Tage tiefe Löcher in die Erde gebohrt, die Erde ausgehöhlt, Schätze entnommen und Wunden geschlagen - für die Menschen über Tage.

Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts hat die Stahlindustrie geblüht. Das Ruhrgebiet war eine dampfende, dreckige, laute Arbeitsmaschine. Die Natur wurde „ausgeraubt“, der Reichtum des Bodens verschlungen und der arbeitende Mann hatte für Kultur nur wenig Sinn – weil ihm weder überschüssige Kraft noch eine höhere Bildung zur Verfügung stand. Seit vielen Jahren aber, befindet sich das Ruhrgebiet in einem Strukturwandel. Was geschieht heute mit der brachliegenden Stahlindustrie, mit den Zechen und Industriegeländen, den Schächten und Hochöfen?

Die Ruhr hat die Betätigungen der Menschen stoisch ertragen. Einst ein durch die Industrie stark in Mitleidenschaft gezogener Industriefluss, trägt er heute wieder zum Erholungswert der Ruhrgebietler, die in weiten Teilen Deutschlands verkannt und kopfschüttelnd betrachtet werden, bei. Durch den Eingriff in die Erde ist im Herzen des „Reviers“ eine neue Hügellandschaft entstanden. Man nennt sie „rekultivierte Schutthalden“. Entlang der Ruhr hat sich etwas Neues entwickelt. Mensch und Natur arbeiten nun Hand in Hand um Kultur zu schaffen. Nach dem Tiefpunkt – der industriellen Aushöhlung – hat es sich ein neuer Impuls breitgemacht. Der Mensch hat die Natur industrialisiert, nun kultiviert er sie. Und zwar mit Stolz und ohne seine Vergangenheit zu verleugnen.

Meine Kindheit in Bochum („du Blume im Revier!“) war geprägt durch Opel. Man konnte direkt aus unserem Küchenfenster im 5.Stock auf die große Autofabrik schauen. Da wurde gearbeitet. Da passierte das Leben. Auch die Bierbrauerei Fiege gehörte dazu. Und die vielen Autobahnen. Die wunderschönen Sonnenuntergänge, tief im Westen, die von den Abstichen in den Hütten begleitet wurden und den Himmel oft in flammendes Rot verwandelten. Das Blut der Erde hat sich im Himmel transformiert.

Aber auch das Schauspielhaus Bochum spielte schon damals eine Rolle – in dem Gemenge der verschiedenen Menschen, die im Ruhrgebiet ihren Platz einnahmen. Denn mit den „Gastarbeitern“ zu Beginn der 60er Jahre traten auch die ersten südländischen Restaurants auf den Plan. Pasta und Pizza und Oliven und türkisches Fladenbrot fanden schnell einen Weg ins Revier und wurden freudig angenommen.

Heute kann man vielen der vergangenen industriellen Tätigkeiten nachgehen. Bahnlinien werden zu Spazierwegen, Gasometer zu Orten künstlerischer Besonderheiten, Schutthalden zu Erkundungswegen, Hochöfen zu Abenteuerspielplätzen, Fertigungshallen zu Konzertsälen und Orpheus tritt im Schacht und unter Tage auf.

Die Zeit von Udo Lindenbergs Malocher neigt sich deutlich dem Ende zu

(Der Malocher aus 'm Ruhrgebiet, / tat nun etwas, was sonst nur selten geschieht / schmiss seiner Frau das Mobiliar vor die Füße / und sagte: "Eh jetzt ist aber Schluß meine Süße. / Und mit dem Lottogewinn, das haut ja doch nicht mehr hin. / Komm Weib mach meinen Koffer klar! / Ich hau jetzt ab nach Paris, da ist das Leben so süß. / Da trink ich Sekt im Alkazar und tanze Chachacha!")

und der Champagner wird unter Tage schon mal für das Jahr 2010 kaltgestellt, denn da präsentiert sich das Ruhrgebiet als europäische Kulturhauptstadt. Und es wird sich öffentlich zeigen, welches Kreativitätspotenzial der Mensch besitzt und wie Kulturgeschichte geschrieben wird.