Montag, 29. Juni 2009

Menschen und Figuren - reales und literarisches Leben

In der deutschen Literatur etabliert sich eine neue Perspektive. Eine erweiterte Blickrichtung. Während in den letzten Jahrhunderten die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf dem Bildungs- und Entwicklungsweg eines Individuums lag, einer einzeln zu verfolgenden Figur, so scheint es mir jetzt so, als ob eine Perspektivverschränkung stattfände. Als ob sich der Blick erweitere. Es steht nicht mehr nur ein einzelnes Individuum – literarisch gesprochen: eine Figur - im Vordergrund, sondern es wird ein ganzes Netzwerk beschrieben. Ein Schicksalsnetzwerk. Figuren- und damit Ereigniskonstellationen.

Im übertragenen Sinne steht die Konstruktion eines Kreises für dieses Bild: Er lässt sich entweder aus der Mitte heraus konstruieren – aus seinem Mittelpunkt heraus – oder über die Peripherie – mittels angelegter Tangenten, die den Umkreis erschaffen.

Entwicklung, Entfaltung, Erlebnisse und Begebenheiten werden heute immer weniger aus einer eindimensionalen, zentrierten Perspektive beschrieben, sondern benötigen auf Grund ihrer Komplexität den großen Blick von oben oder auch: durch verschiedene Schichten hindurch. Erst dieser große Blick schafft Sinn, denn ein Individuum lebt nie gänzlich isoliert von der Welt mit all ihren Ereignissen, Zuständen, Gegenständen, Gesellschaften und eben weiteren Teilhabern.

Der Soziologe Niklas Luhmann würde sich mit seiner Systemtheorie über die Entwicklung in der deutschen Gegenwartsliteratur sicher freuen.

Denn gerade die Generation der jüngeren Autoren in Deutschland scheint diesen Perspektivwechsel begriffen zu haben. Individuum und Welt gehören zusammen, sie rekurrieren einander und das Leben eines einzelnen ist ohne seine Mitspieler nicht mehr begreif- und schon gar nicht beschreibbar. Es folgt der Blick auf drei literarische Beispiele: Neuerscheinungen aus diesem Jahr, die zeigen, wie Menschen oder Figuren und Ereignisse ineinander greifen, wie unübersichtlich das Gewebe oft ist und wie überraschend die Zusammenhänge sind.

Daniel Kehlmann erzählt in seinem neuen Buch „Ruhm“ neun Geschichten. Sie sind so verfasst, dass sie einzeln als Kurzgeschichten gelten könnten. Aber genau darin liegt der Punkt: sie berühren einander. Ganz trocken. Mittels eines Namens, einer kleinen Begebenheit, eines Ortes oder Zeitpunkts. Nicht, dass die Protagonisten offensichtlich aufeinander reagieren, oder, dass sich ein gemeinsames „Ereignis ereignet“ – nein, es ist wie im täglichen Leben, in dem ich auch nicht weiß, ob XY gerade vor mir im Laden gewesen ist – und vor allem warum.

Daniel Kehlmann macht ein Netzwerk sichtbar. Ohne Wertigkeit. Ein Netzwerk auf horizontaler Ebene ohne hierarchische Ausrichtung – philosophisch auch „Vertikalspannung“ genannt. Knotenpunkte treten in den Vordergrund. Ganz subtil. Und die große Verknüpfung bildet das Netz des sozialen Lebens – in dem sich literarische Figuren genauso wie konkrete Menschen bewegen, suchen und finden.

Anna Katharina Hahn macht in ihrem neuen Roman „Kürzere Tage“ etwas Ähnliches – und doch auf eine ganz andere Weise. Auch sie erzählt Geschichten. Über Begebenheiten. Innen- und Außenansichten verschiedener Protagonisten werden vermittelt. Sie präsentiert Ausschnitte aus dem Leben verschiedener Figuren. Der Blick der Autorin wendet sich von einer Figur der nächsten zu. Trocken. Disparat. Und trotzdem gibt es eine Verknüpfung, die schnell deutlich wird. Es ist der Zeitpunkt des Geschehens und der Ort. Stuttgart. Die Erzählung steht auf realem Boden. Es werden Straßen genannt, Gebäude, das Surrounding entspricht dem „wirklichen Leben“.

Ihre zunächst unzusammenhängende Darstellung der verschiedenen Lebenssituationen mündet in einen gemeinsamen Moment. Raum und Zeit begegnen einander. Die Protagonisten – die übrigens alle in der gleichen Straße leben – treffen in einem heiklen Moment aufeinander. Die Situation ist zugespitzt. Es geht um Leben und Tod. Keiner kennt die Geschichte des Anderen – aber nun werden die Figuren zusammen zu einer gemeinsamen Geschichte. Und damit endet – natürlich – die Erzählung von Anna Katharina Hahn, ohne dass der Leser weiß, wie die Erzählung „ausgeht“.

Eine weitere Variante dieser neuen Blickrichtung, dieses Sichtbarmachens von Netzwerken und speziell von Vorerfahrungen, also persönlicher Entwicklung in zeitlicher Ausdehnung, bietet Judith Hermann in ihrem neuen Buch „Alice“. Es ist eine Figur – Alice – die in fünf Momenten ihres Lebens geschildert wird. Fünf Männer sterben. Die Reihenfolge ist dabei unerheblich. Aber Alice kennt sie alle – begleitet sie, diese Männer. Bis auf den Tod ihres Onkels. Er ist vor ihrer Zeit gestorben – aber sie recherchiert seinen Tod.

Auch diese fünf Geschichten könnten einzeln stehen. Aber das tun sie nicht. Und zu Recht. Denn das Sinnhafte dieser morbiden – und doch so leichtfüßig geschriebenen Erzählungen – wird erst dadurch sichtbar, dass Alice in ihrem Netzwerk auf einem Knotenpunkt steht – mitten in ihrer eigenen Lebensgeschichte. Aber gerade die wird natürlich nicht konsequent geschildert – nein, wieder bekommen wir es nur mit Momentaufnahmen zu tun. Kontinuität schafft nur der Name „Alice“.

Judith Hermann hat also ein Thema genommen – den Verlust und damit gleichzeitig das Leben damit – und in der Geschichte, die wir das Leben einer Figur nennen, das „Sterbensnetzwerk“ fokussiert, in dem die Protagonistin deutlich dem Leben zustrebt. Ja, sich konträr zum Tod dieser Männer verhält. Die Gestalt Alice wird durch die verschiedenen Erzählungen erschaffen, sie bildet den Mittelpunkt und gleichsam die Peripherie.

In allen drei der genannten Erzählungen fällt noch etwas auf. Das Leben von Figuren, Gestalten – und ich vermute auch realen Menschen – ist nicht konsequent „nacherzählbar“, ist nicht verstehbar, ist nicht nachvollziehbar. Gerade das Leben entbehrt die Konsequenz, die Stringenz oder auch die Kontingenz. Innen und außen sind eben innen und außen. Zwar gibt es einen Schnittpunkt dieser Bereiche – aber was dort geschieht gehört wohl zum Mysterium des menschlichen Lebens und damit dem, was wir den „Lebens-Lauf“ nennen. Und dies ist wohl eine Wahrheit, die sowohl für die Literatur als auch für das wirkliche Leben gilt.

Fragmente werden zu Abbildern einer vollständigen Figur, eines vollständigen Entwicklungs- und Lebensweges – gerade in ihrer fragmentarischen Struktur. Eigentlich ist das mittlerweile ja schon bekannt. Aber es tut gut, wieder darauf hingewiesen zu werden. Sowohl die menschliche als auch die literarische Identität markiert die Schnittstelle zwischen Individuum und Welt/Gesellschaft, zwischen mir und dir, zwischen innen und außen. Dadurch bleibt die Würde gewahrt.

Und: gerade das machen die drei zukunftsweisenden Erzählungen sichtbar. Und: sie sind stolz darauf. Hier kann sich das „wirkliche Leben“ mit der literarischen Welt zusammenschließen. In einem Kreis. Von außen nach innen. Und: von innen nach außen.

• Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt Verlag, 2009.
• Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage. Suhrkamp Verlag, 2009.
• Judith Herrmann: Alice. S.Fischer Verlag, 2009.

Sonntag, 21. Juni 2009

Nähe und Ferne. Walter Benjamin

Walter Benjamin ist in dem Jahr gestorben, als meine Eltern geboren wurden. Ich habe ihn physisch also nie getroffen. Nein, ich „kenne“ ihn nicht. Trotzdem bin ich ihm begegnet. Irgendwie. Und zwar über das geschriebene Wort. Seine eigenen Texte. Und das, was andere über ihn geschrieben haben. Ich hatte seinen Namen noch nie gehört – glaube ich – und musste ein Hauptseminar an der Universität Tübingen belegen. Der Name „Walter Benjamin“ strahlte etwas aus. Irgendetwas. Also meldete ich mich an. Mittlerweile – die Begegnung liegt nun schon ein paar Jahre zurück – zählt er zu meinen Wegbegleitern. Er ist ein Gefährte geworden. Walter Benjamin gehört dazu. Zu meinem Leben. Irgendwie.

Walter Benjamin hat über 7000 Seiten Text hinterlassen. Und ich kann nicht behaupten, dass ich wirklich verstanden hätte, was Walter Benjamin eigentlich sagen wollte, oder gar, dass ich sein ganzes Werk gelesen hätte. Er hat literarische und ästhetische Essays hinterlassen, wissenschaftliche Untersuchungen, kulturpolitische Aufsätze, Vorträge und Reden, Fragmente, Tagebücher, Glossen und Rezensionen. Abgesehen von Artikeln und Aufsätzen ist vieles von dem, was Walter Benjamin zu Beginn des letzten Jahrhunderts geschrieben hat, zu seinen Lebzeiten gar nicht veröffentlicht worden. Trotzdem gehört er heute zu den meist rezipierten und diskutierten Autoren in der intellektuellen Welt der Postmoderne. Benjamin ist richtig anwesend, er ist da. Seine Texte werden gelesen, besprochen, bewegt.

Er wurde 1892 in Berlin in ein deutsch-jüdisches Elternhaus hineingeboren. Nach der Schule studierte er Philosophie, Literatur und Geschichte. Bereits in Studentenzeiten begann er zu publizieren. Seine Promotion (1919) wurde anerkannt, seine später in Frankfurt eingereichte Habilitation nicht (1925). Von diesem Moment an definierte er sich als freier Schriftsteller. Notgedrungen. Er schrieb für Zeitungen und bereitete eigene Publikationen vor.

1933 ist er nach Paris emigriert. Tief verzweifelt nahm er sich 1940 in Port Bou das Leben, da die Grenzwächter ihm die Einreise nach Spanien verweigern. Durch seine Freunde, Gershom Scholem, Bert Brecht, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Max Horkheimer u.a. wird sein Werk bekannt. Und er „lebt“ weiter. Der Diskurs um sein Leben und Werk ist lebendig und im öffentlichen Leben heute präsenter denn je.

All das, was ich bis hierher beschrieben habe, sind äußere Tatsachen. Eben Lebensgegebenheiten. Sicherlich tragisch zu nennende – aber noch nicht etwas, das zeigt, was für mich das Besondere, das Berührende an Walter Benjamin ist. Wie ist das überhaupt vorstellbar? Da hat jemand gelebt, dem ich nie begegnet bin. Habe also nie gesehen, wie er spricht, läuft oder isst. Wie er ausgesehen hat, weiß ich nur von Fotos. Und auch seinen Freunden bin ich physisch nie begegnet. Die Begegnung fand also auf anderer Ebene statt. Auf der Ebene der Sprache – dem geschriebenen Wort. Und nur da. Ausschließlich. Wichtig zu erwähnen ist in diesem Kontext für mich, dass vieles von dem, was wir heute von ihm lesen können, zu seinen Lebzeiten gar nicht publiziert worden ist. Es sind Texte, von denen nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass Benjamin sie der Öffentlichkeit so übergeben hätte. Und auch an all die Briefe ist in diesem Zusammenhang zu denken. Wie steht Benjamin dazu, dass wir heute lesen dürfen, was er sich mit Gretel Adorno geschrieben hat, oder mit Gershom Scholem?

Es gibt also Fragen über Fragen. Ethische Fragen. Und eine Antwort darauf können nur die Nachgeborenen finden. Er nicht mehr. Aber das ist gar nicht das, was mich beschäftigt. Mir gehen Sätze nach. Aussagen. Beschreibungen Benjamins. Vieles, was er geschrieben hat ist ja sehr schwer zu verstehen. Und gar nicht so ohne weiteres übertragbar. Aber es hat sich so etwas wie eine Aura um seine Worte gebildet – ein Farbklang. Sie laden zum Nachdenken ein.

In seinem oft rezipierten Aufsatz: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschreibt er, was die Aura für ihn ist, und welche Bedeutung er ihr beimisst. Er schreibt, dass die Aura: „…ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: eine einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ sei. Was – um Gottes willen – hat man sich darunter genau vorzustellen? Und genau das ist der Punkt. Benjamin ist nicht zu definieren. Seine Aussagen sind nicht eindeutig zuzuordnen. Die Ränder von Bedeutungen sind weich. Angenehm unscharf.

Immer wieder überrascht er mit seinen Aussagen. Ein assimilierter Jude in der akademischen Welt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Metropole Berlin, der sich für Spiritualität interessiert, materialistische Ansätze verfolgt, kommunistische… ein wandernder Bürger zwischen den Welten. Eine Stimme, die sich vernehmen lässt, ohne dass sie einen stringenten Weg verfolgt. Benjamin passt in keine ideologische Schublade. Auch heute noch nicht. Trotzdem fasziniert seine Stimme die Gemüter.

Ich glaube, dass Benjamin als Mensch jemand war, der sich vom Geist der Zeit hat berühren lassen. Und was er getan hat, war den Geist der Zeit mit seinen Worten zu berühren. Damals war mächtig etwas los – es lag etwas in der Luft. Heutzutage wäre er mit Sicherheit ein Internetblogger. Benjamin hätte sich eingemischt, eingeklinkt. Er hätte sich auf dieser Ebene gezeigt. Und geschrieben. Viel geschrieben.

Walter Benjamin hat ein kleines Büchlein hinterlassen, die „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Darin hat er Episoden seiner eigenen Kindheit verarbeitet. Nicht aber sich selber dargestellt. Nein, etwas klassisch Autobiographisches hat er keineswegs veröffentlicht. Benjamin hat durch seinen Text die Dinge sprechen lassen – die damals zu ihm gesprochen haben.

Marcel Proust versucht in seinem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mittels Erinnerung die Vergangenheit wiederzufinden – und er findet sie, plötzlich, durch den Geschmack von Lindenblütentee und Madeleines. Man nennt das mémoire involontaire. Benjamin sucht im Zurücktasten in seine Kindheit, in die Vergangenheit etwas anderes. Es ist die Zukunft. Benjamin ist nach vorne gerichtet – und schenkt seine Erinnerungen der Nachwelt, damit diese Zukunft gestalten kann. Er erhebt seine Erinnerungen über sich selbst als Person hinaus.

Und gerade das ist es, was Benjamin heute so lebendig macht. Er ist – noch immer! - berührbar und er berührt. Durch Sprache. Und wir können noch heute mit ihm sprechen. Im Gespräch sein. Benjamin scheint eben auch „ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: eine einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ zu sein.

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp Verlag.

Mittwoch, 17. Juni 2009

Literarische Brüche. Kollektiv und Individuum

Das Mittelalter hat im deutschen Sprachraum einige große Erzählungen hervorgebracht, die heute noch Beachtung finden, denn – und das ist bis heute so – etwas zu erzählen bedeutet immer Sinn zu stiften. Zwei leuchtende Werke, die beide um etwa 1200 niedergeschrieben wurden, sind zum einen das Nibelungenlied und zum anderen Parzival. Das, was in diesen großen Geschichten erzählt wird transportiert einen Sinn, der heute noch von Bedeutung ist. In beiden Werken geht es um die Handhabung von menschlichen Konflikten – die Beschreibung des Umgangs damit zeichnet sich jedoch durch gravierende Unterschiede aus.

Wolfram von Eschenbach hat mit seiner Parzival-Erzählung ein Werk hinterlassen, das sowohl vom Inhalt als auch durch seine Form auffällt – und aus der Tradition herausfällt. Formal kann das an einem kleinen Vergleich mit dem Nibelungenlied gezeigt werden und inhaltlich an der Darstellungsstruktur in der Erzählung selber.

Das Nibelungenlied lässt sich in zwei Teile gliedern, die sich um zwei Stoffkreise zentrieren. Der eine Teil kreist um Siegfried und dessen Ermordung sowie deren Voraussetzungen und Folgen und der andere um Kriemhilds Rache mitsamt dem Tod unzähliger Beteiligter. Zusammengehalten werden diese beiden Teile durch einige Figuren, vor allem Kriemhild und Siegfried sowie Brünhild und Hagen.

Auffällig ist, dass sich das Geschehen auf Kollektivebene bewegt. Hier treffen Gruppen, Sippen, ja Völker aufeinander. Die einzelnen Figuren sind durch kollektive Vorgaben – Herkunft, Status, Handlungskontext und gesellschaftliche Normen – und nur marginal durch individuelle Auszeichnungen bestimmt.

Und so passt der Umstand, dass der Autor des Nibelungenliedes unbekannt ist, gerade auf dieser Ebene zum Inhalt des Geschehens. In Fachkreisen spricht man sogar von einer „Nibelungenwerkstatt“ die die Erzählung übermittelt hätte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das aus dem Mittelalter übertragene Nibelungenlied vom Untergang einer ganzen Sippe handelt.

Das Parzival-Epos besteht aus sechzehn Büchern, die sich alle - offensichtlich und versteckt - um den Entwicklungs- und Entfaltungsweg des Protagonisten drehen. Die Erzählung beginnt mit der Geburt Parzivals und endet an der Stelle, als er nach seinem langen Weg Gralskönig wird. Alle Figuren in seinem Schicksalsnetzwerk werden mittel- und unmittelbar perspektivisch gezeichnet. Der Autor zeigt in der Erzählung die einsamen und verschlungenen Wege eines Individuums, das Fehler macht, Einsicht erhält und unerwartete Chancen bekommt.

Im Gegensatz zum Nibelungenlied wird im Parzival also ein konkreter Autor genannt (der die altfranzösische Erzählung Chretiens de Troys erweitert hat), passend zu dem Umstand, dass die Wege eines Individuums verfolgt werden. Trotz mittelalterlicher Verhältnisse, die sich durch die Grals- und die Artusgesellschaft repräsentieren, wird der Aufstieg eines Individuums geschildert. Genaue Figurenzeichnungen verraten innere Wünsche, Hoffnungen und Unterschiede.

Im Gegensatz zu den Figuren im Parzival agieren die Handlungsträger im Nibelungenlied weitgehend im Licht der Öffentlichkeit. Sie orientieren ihr Handeln fast ausschließlich an dem, was man über sie berichten soll, ihre glanzvolle Seite also. Ganz anders wird das in der Erzählung Wolframs gehandhabt. Dort geschehen die markanten Einschnitte oder Richtungsänderungen im Innern einer Figur. Und, es handelt sich nicht immer um vorbildliche Vorgänge. Nein, es werden Abgründe sichtbar, die auch den Leser so einer Erzählung mit der dunklen Seite des menschlichen Lebens konfrontieren.

In beiden Werken wird der Leitwert des Geschehens mit dem mittelhochdeutschen Wort „triuwe“ benannt, was heute getrost und einfach mit „Treue“ übersetzt werden kann – jedoch ganz unterschiedlich motiviert wird. Im einen Fall ist es die nach außen gewendete Treue, die sich an gesellschaftlichen Maßstäben orientiert und im Falle Parzivals ist es die nach innen gewendete Treue, die sich an individuellen Werten misst. Nur durch die innere Treue zu sich selbst erreicht Parzival seine Ziele.
Soweit zur formalen Abgrenzung zwischen Nibelungenlied und Parzival. Auf inhaltlicher Ebene macht Wolfram von Eschenbach die Änderung des menschlichen Bewusstseins durch einen gekonnten Spiegelungsakt sichtbar.

Inmitten der Erzählung richtet sich nämlich die Aufmerksamkeit plötzlich auf eine konträre Figur. Parzival war ja als Dümmling eingeführt worden, der vieles „falsch“ macht. Im Gegensatz dazu spielt sein Vetter Gawan eine entgegengesetzte Rolle. Er wird als vorbildlicher Artusritter eingeführt, der sich nie etwas zu Schulden kommen lässt.

Gawan begegnet Parzival das erste Mal, als er träumend vor den drei Blutstropfen auf dem Schnee verharrt und von seinen Sehnsüchten und Hoffnungen tief ins Innere seiner Seele gezogen ist. Gawan erkennt Parzivals Zustand – im Gegensatz zu den beiden Haudegen vor ihm (Keie und Segramurs) – und geht bedacht mit dieser Situation um. Er bedeckt die Blutstropfen und holt Parzival auf diese Weise in die äußere Wirklichkeit zurück. Auf geheimnisvolle Weise weiß Gawan also um den Gemütszustand seines Vetters. Er „erkennt“ ihn. Beide werden dann, aus unterschiedlichen Gründen, vom Artushof verstoßen und versuchen verzweifelt allein ihr Glück.

Gawan muss sich behaupten. Er wird in unsägliche Kämpfe verwickelt, die gefährlich und unnötig sind, muss sich gegen Vorwürfe wehren, die ihm nicht gebühren und schafft es schließlich, mehr schlecht als recht, das Gegenstück zur Gralsburg – das Zauberschloss Schastelmarveil – zu befreien. Die Frau seines Herzens, Orgeluse, fordert einen Minnedienst nach dem anderen von ihm – Gawan steht am Ende der Erzählung alles andere als strahlend vor der Artuswelt. Er ist verwundet, zerknirscht und konnte mit letzter Not sein Leben retten.

Die beiden Helden treffen sich nach einem erbitterten Kampf – denn sie erkennen sich vorerst nicht! – am Artushof wieder. Beide haben die Frau ihres Herzens dabei. Während Parzival von einem jugendlichen Triebtäter zu einem besonnenen Ehemann und Vater mutiert ist, hat sich Gawan von einem bewunderten Artusritter zu einem demütigen Ehemann verwandelt.

Manch ein Leser fragt sich während der Lektüre der Wolfram‘schen Geschichte, warum die Gawan-Episode in die Erzählung eingeflochten wurde – warum hat Wolfram nicht zwei einzelne Erzählungen verfasst? Und genau in dieser Frage zeigt Wolfram seinen weiten Blick aus dem Mittelalter heraus. Parzival und Gawan sind eine Figur – sie spiegeln einander wie Tag und Nacht, wie hell und dunkel oder äußerlich und innerlich.

Wolfram von Eschenbach hat die Erweiterung des menschlichen Bewusstseins, die den Bruch zwischen Mittelalter und Neuzeit markiert, in seinem Werk bereits vor achthundert Jahren sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene sichtbar gemacht.

Sonntag, 7. Juni 2009

Arbeit für die Zukunft

Coenraad van Houten ist siebenundachtzig Jahre alt. Über Pfingsten hatte ich wieder einmal die Gelegenheit ihn zu erleben und ihn sprechen zu hören – kurz, mit ihm zu arbeiten. Wir trafen uns zur Pfingstkonferenz - so ein Treffen veranstaltet NALM - New Adult Learning Movement - jedes Jahr (siehe: www.nalm.net). Dort kommen Menschen zusammen, die etwas mit dem Impuls der erneuerten Erwachsenenbildung zu tun haben. Coenraad van Houten (CvH) verbringt also seinen Lebensabend als betagter Mann nicht ausschließlich im Kreise seiner Familie, sondern, er arbeitet.

Er stellt seine Lebenserfahrungen, seine Fähigkeiten, Einsichten und Überzeugungen der Zukunft zur Verfügung. Er arbeitet für die Zukunft, die Zeit nach ihm. Vor etwa zwanzig Jahren hat er erkannt, welche Art der Schulung dem erwachsenen Menschen angeboten werden kann, damit er auch nur halbwegs den bereits ausgebrochenen Geisteskampf, der in der Seele jedes Einzelnen heute tobt, übersteht. Kurz, CvH hat Wege entdeckt, wie sich der heutige Mensch schulen und stärken kann, um den Herausforderungen des alltäglichen Lebens gewachsen zu sein. All seine Kraft geht seitdem in den Aufbau des NALM Netzwerkes, in weitere Forschungen und in die Ausbildung der Menschen, die bereit sind, auf dieser Ebene zu arbeiten.

Grundlage seiner Arbeit ist die Anthroposophie, sind die Erkenntnisse Rudolf Steiners. Und CvH ist heute noch einer der letzten, der verschiedene Gründerpersönlichkeiten der anthroposophischen Bewegung in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts kennengelernt hat. In den dreißiger Jahren ist er selbst als Schüler zur Waldorfschule in Den Haag (NL) gegangen. Sein Arbeitsleben hat ihn durch viele Länder geführt und ihm die verschiedensten Herausforderungen gebracht. Wichtige Lehrer und Gefährten waren ihm dabei auch die beiden Holländer Willem Zeylmans van Emmichoven und Bernard Lievegoed.

Als eine der dringenden Aufgaben heute erlebt CvH die Beantwortung der Frage, wie Institute, Organisationen, Arbeitszusammenhänge, Gruppen etc. wirklich zusammenarbeiten können, wenn als Leitbild das freie Geistesleben eines jeden Einzelnen ernstgenommen wird. Wie kann das freie Geistesleben gelebt werden, wenn es nicht nur um persönliche Anschauungen geht? Und wie trägt das freie Geistesleben etwas Positives an die Nöte der sozialen Frage bei? Bei diesem Thema geht es ihm nicht um weitere Methoden, Modelle oder Begriffe, sondern um lebendige Praxistauglichkeit. Um Nachhaltigkeit. Darum, wie sich der Einzelne einbringen kann. Und dieses „Sich-einbringen“ hat wieder mit der Grundhaltung des Einzelnen zu tun. Es geht ihm in der Tiefe also um das Kreativitätspotenzial des Individuums.

Er erzählt immer wieder, dass schon Ita Wegmann, eine enge Mitarbeiterin Rudolf Steiners, darüber gesprochen haben soll, dass alles das, was in Gruppen versucht wird dann keinen Sinn hat, wenn der Einzelne nicht selbständig Kreativität entwickeln kann. Die Erreichbarkeit des entsprechenden Anliegens, das eine Gruppe hat, hängt im Wesentlichen davon ab, wie die Menschen, die die Gruppe bilden, geschult sind. Ob sie selber in der Lage sind, eigenständig zu denken – vor allem zu urteilen! – und zu handeln. Kurz, wie weit ihre Individualität ausgeprägt ist.

Um an die Quellen der eigenen Kreativität zu kommen, reicht es nicht aus, neue Techniken, Methoden oder gar Strategien zu verfolgen. Nein, Coenraad van Houten arbeitet auf einer ganz anderen Ebene. Der Boden seiner Arbeit ist der Gedanke der Reinkarnation und des Karmas, das jeder Mensch durchläuft, bzw. hat. Wenn wir immer wieder auf die Erde kommen, zu verschiedenen Zeiten und in ganz unterschiedliche Lebenszusammenhänge gestellt, dann entwickeln „wir“ uns – fast zwangsläufig. Denn, „wir“ müssen uns an die jeweilige Lebenssituation anpassen, uns also immer wieder umstellen. Möglicherweise bleiben aber „Reste“ – zum Beispiel Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Grundhaltungen dem Leben gegenüber aus einem anderen Leben bestehen. Ziel der Arbeit mit karmischen Fragen ist die Gegenwärtigkeit, Offenheit und Angemessenheit im hiesigen Leben.

Um also an das eigene Kreativitätspotenzial heranzukommen, ist es nötig erst einmal den Willen zu erwecken. Was schlummert eigentlich in uns? Wissen wir, was wir wollen? Und, können wir das auch kommunizieren? In der Arbeit bei NALM geht es also zunächst um die Individualisierung des Menschen, um dann für die soziale Frage der Menschheit neue Antworten und Möglichkeiten zur Verfügung zu haben. Auf neue Fragen sollen neue Antworten gegeben werden können, die dazu befähigen geistesgegenwärtig immer wieder neu zu handeln. Darum geht es Coenraad van Houten. Die Individualisierung des Einzelnen ist also gerade kein Gegenspieler der sozialen Frage, sondern ein zu erweckendes Potenzial.

Damit die Kreativität in jedem Einzelnen geboren werden kann, werden bei NALM verschiedene Fähigkeiten geschult. Das ist zum Beispiel die selbstlose Wahrnehmung und im Gegenzug dazu die selbständige Urteilsbildung, das offene Begegnen der Welt und meiner Mitmenschen, die Entwicklung von Karmakräften, die Nutzung der Weisheit des Tag- und Nachtlernens und die Verwandlung der sieben Lebensprozesse in Lernprozesse, Schicksalslernprozesse und in die Geistige Forschung.

Im Laufe der letzten zwanzig Jahre wurde in dieser Hinsicht Vieles entwickelt. Und nicht nur CvH forscht an diesen Themen und Fragen, sondern mittlerweile ein offenes Netzwerk von Menschen die in den verschiedensten Ländern dieser Erde leben und arbeiten. Zur Entwicklungsgeschichte von NALM gehören wie überall zwei Seiten. Von der Sonnenseite wurde bereits berichtet und über die Schattenseite lässt sich sagen, dass einige Menschen aus dem sich bildenden Schicksalsnetzwerk herausgefallen zu sein scheinen. Die Arbeit für die Zukunft bedeutet nicht, dass es auf der mitmenschlichen Ebene keine Verletzungen und Unzulänglichkeiten gibt. Auch das gehört dazu und auch daran wird gearbeitet.

Mensch sein um Mensch zu werden, damit sich eine Kultur des Herzens etablieren kann - Coen, wie gut, dass du noch immer arbeitest!