Donnerstag, 28. Mai 2009

Hilde Domin

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Diese Zeilen schreibt eine Frau, die mehr als ein Wunder in ihrem Leben erlebt hat und immer wieder dazu bereit war. Die Dichterin Hilde Domin gehört mit ihren Worten zu meinem Leben. Immer wieder kann ich mich in ihren Gedichten finden, erweitern ihre Worte meinen Horizont und immer wieder machen ihre lyrischen Wortverbindungen Mut. Ihre Worte klingen und lassen Melodien entstehen. Ihre Gedichte sind aber auch Statements. Hilde Domin zeigt sich. Sie zeigt sich in ihrem Schmerz und sie zeigt sich in ihrer Hoffnung. Innere und äußere Erlebnisse fasst sie in Worte. Und ihre Worte gehen weit über ein persönliches Erleben hinaus. Hilde Domin schenkt sich in ihrer Sprache, mit ihren Worten der Welt.

Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort.

Hilde Domin wurde 1909 in Köln geboren. Erst mit zweiundvierzig Jahren begann sie selber zu dichten. Das war nach dem Tod ihrer Mutter. Bis dahin hatte sie, obgleich selbst studiert und in Staatswissenschaften in Florenz promoviert, hauptsächlich ihrem Mann zugearbeitet. 1932 war sie mit Ernst Walter Palm zunächst nach Italien, dann über Großbritannien in die Dominikanische Republik emigriert. Denn Hilde Domin war Jüdin. 1954 kehrte sie, nach zweiundzwanzig Jahren im Exil, mutig und mit vielen Fragen nach Deutschland zurück. Dort wurde sie sogleich als Dichterin erkannt und gefeiert.

Es gibt dich

Dein Ort ist
wo Augen dich ansehen.
Wo sich Augen treffen
entstehst du.

Von einem Ruf gehalten,
immer die gleiche Stimme,
es scheint nur eine zu geben
mit der alle rufen.

Du fielest,
aber du fällst nicht.
Augen fangen dich auf.

Es gibt dich
weil Augen dich wollen,
dich ansehen und sagen
daß es dich gibt.

Hilde Domin nahm ihr Schicksal als Jüdin im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht persönlich. Sie hat gelitten, ja, unendlich gelitten. Sie hat Angst gehabt und musste fliehen. Dabei hat sie ihre Heimat verloren, ihre Eltern, ihre Freunde, sie musste alles hinter sich lassen, immer wieder. Aber sie hat auch Glück gehabt. Ja, sie hat zwar in diesen Jahren ihr Vater-land verloren - was sie sich aber durch alle Umstände, Provisorien und Übergänge erhalten konnte, das war ihre Mutter-sprache. Heimat hat sie im Wort gefunden.

Hand in Hand mit der Sprache
bis zuletzt

Es ist ihr anders ergangen als manchem Leidensgenossen. Vielleicht, weil sie nicht im KZ war. Paul Celan zum Beispiel ist an seinen Erlebnissen zerbrochen. Oder auch Ruth Klüger. Sie ist zwar Professorin für deutsche Literatur in den USA geworden, aber der erlittene Schmerz weicht nicht von ihr. Ihre Wunde blutet bis heute – und zeigt sich in ihren berührenden Prosatexten, die von Sarkasmus getragen werden. Und auch das ist ein Schicksal, vor dem ich mich nur verneigen kann. Hilde Domin hat Frieden gefunden. Irgendwie. Sie hat die Schönheit der Welt sowie ihre Hässlichkeit, das Glück ihres Lebens und auch ihr Unglück in sich vereinen können. Die Gedichte der Jüdin Hilde Domin bleiben ein leuchtender Stern am Himmel der Lyrik – besonders in Deutschland, trotz des Holocausts.

Ich setzte den Fuß in die Luft
und sie trug.

Hilde Domin ist 2006 gestorben. Es gibt einen wunderschönen Film über ihre letzten Lebensjahre. Der Film heisst: „Ich will dich – Begegnungen mit Hilde Domin“. Anna Ditges hat ihn gedreht.

Alle Gedichte sind dem Band entnommen: Hilde Domin „Gesammelte Gedichte“. S.Fischer Verlag, Frankfurt, 1987

Montag, 25. Mai 2009

Eine Stadt voller Geschichten

Sein Leben bestand aus Geschichten. Und das wusste er. Was hatte er nicht alles schon erlebt. Da gab es die Geschichten mit den Frauen. Die Geschichte mit dem Goldtaler. Die Geschichte in dem alten Land. Und die in Europa. Fast alle Begegnungen in seinem Leben sind zu Geschichten geworden. Erlebnisse und Ereignisse gab es in unzähliger Fülle. Er könnte davon erzählen. Das hat er auch schon getan. An vieles erinnert er sich. Aber darum ging es ihm jetzt nicht mehr.

Nein, die Zeit, vergangene Geschichten zu erzählen neigte sich dem Ende zu. Er suchte keine alten Geschichten mehr. Aber seine eigene Geschichte, die, die sich gerade erzählt, die Geschichte, die er selber nicht kannte, obwohl er die Hauptperson war… Die Geschichte, über die er noch nie jemanden hatte richten hören und die er selber nur vage in sich spürte. Dieser Spur wollte er folgen. Diese Geschichte wollte er finden. Er wollte sie nicht suchen. Nein. Er wollte sie finden. Sie sollte auf ihn zukommen. Das wollte er. Die Zeit war reif. Er bewegte sich aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein. Aus der Zukunft in die Gegenwart.

Er ging einkaufen. In einen großen Supermarkt. Und als er in einer Reihe an der Kasse stand, da versuchte er sich vorzustellen, welche Geschichten die Menschen um ihn herum wohl schrieben oder in sich trugen. Waren es die Grimm’schen Märchen? Oder Kriminalromane? Hatte der Mann, der vor ihm stand mit Asterix mitgelacht? Oder hatte er die alten Überlieferungen wie das Nibelungen-Lied gelesen? Mit welchen Helden waren die Menschen um ihn herum mitgegangen? Und die Frau hinter ihm, was war ihr nahe gegangen? Welche Geschichten beschäftigten sie, welche trug sie in sich? Gelesene, gehörte, gesehene oder gar selbsterlebte?

Und der Mann realisierte, dass es verschiedene Ebenen von Geschichten gab. Die eigenen Geschichten. Und die Geschichten der Anderen. Literarische Geschichten. Die gehörten Geschichten, die gelesenen, ja und sogar die selber geschriebenen Geschichten. Jeder Mensch schreibt sein Leben in sich ein, in die Erde ein. Jeder macht Geschichte. Komponiert die eigene Lebensgeschichte. Baut an seiner Geschichte. Und der Mann fragte sich, an welcher Stelle seiner Geschichte er sich wohl befand. Standen ihm noch Abenteuer bevor? Würde das Wetter beständig, sonnig und windstill bleiben? Oder war das Ende nah? Erlebte jemand seine Geschichte mit, würde sie weiter erzählt werden? Wer nahm Anteil daran? Und wie würde seine Geschichte einst erzählt werden?

Er wusste, dass er die Spur seiner eigenen Geschichte nur finden würde, wenn er die Geschichten anderer begriff. Und er fuhr in die Stadt. Dort fanden die Literaturtage statt. Und alle Menschen waren dort auf der Suche nach Geschichten. Und hier fanden sie sich, die vielen Geschichten. Es gab das gesprochene Wort, Lesungen und Erzählungen. Und es gab das geschriebene. In Hülle und Fülle. Eine ganze Stadt voller Bücher. Voller Erzählungen und Geschichten. Der Mann begab sich in den Strom und ließ sich mitnehmen. Was für Geschichten würden ihm begegnen, würde er sich in ihnen finden?

In gleißender Mittagshitze beginnen zwei Schauspieler aus dem Briefwechsel „Herzzeit“ von Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu lesen. Stille liegt über dem Innenhof. Die gelesenen Worte werden von melancholischer Musik umrahmt. Die Briefe wechseln einander ab. Sie erzählen von Liebe. Von Sehnsucht. Von Fragen und Unwägbarkeiten. Zwei große Dichter, die miteinander um das Wort ringen. Briefe von poetischer Kraft. Die von Verlangen und Verzweiflung handeln. Die Alltagsgeschehnisse beschreiben und Fragen stellen. Ein Telegramm ist dabei: „Ich denke an dich“, Briefentwürfe werden gelesen. Die Stille wird hörbar. Und Zeit und Raum breiten sich aus. Die Nachkriegsjahre steigen auf, Briefe aus Paris, Köln, München und Salzburg erklingen. Und das Drama, die Tragödie der beiden großen verwundeten Dichter, die zu Beginn der 70er Jahre das Leben und das Schreiben und das Lesen aufgaben – wir dürfen heute ihre Liebesbriefe lesen.

Gegen Abend steht Rafik Schami auf der Bühne. Der große Erzähler aus Damaskus, der seine Geschichten, die im Orient spielen, auf Deutsch erzählt. Der große Innenhof des Wilhemstifts ist bis auf den letzten Platz mit Menschen gefüllt. Und Rafik Schami ergreift das Wort. Er erzählt. Erzählt von seinem Buch „Das Geheimnis des Kalligraphen“. Er liest nicht vor, nein, er erzählt. Er lädt die Zuhörer ein, mit ihm nach Damaskus zu kommen. Den Gerüchten um den Kalligraphen zu folgen. Dafür beschreibt Rafik Schami Gerüche, Lichtverhältnisse und lässt mit bewegenden Worten seine Helden entstehen. Sie erwachen und bewegen sich durch die Worte des Autors über die Bühne, durch Damaskus. Bilder entstehen, Szenen, Geschichten. Rafik Schami, dessen Name frei übersetzt „der, der Damaskus liebt“ bedeutet, schafft es, seine Geschichte erlebbar zu machen, die Zuhörer einzubeziehen – den Duft von Damaskus herüber wehen zu lassen.

Und dann ist da Raoul Schrott. Ein österreichischer Literaturwissenschaftler, Komparatist und Schriftsteller. Seine Lesung findet zu nächtlicher Stunde statt. Was für eine Geschichte bringt er? Die „Illias“ ist es. Die alte Geschichte um den trojanischen Krieg. Er hat sie neu übersetzt. Und zur Erklärung flicht er ein, dass Poesie das ist, was zwischen den Zeilen steht… Und das war der Grund für ihn, den alten Text ins heutige Deutsch zu übertragen. Er liest aus seinem Buch vor. Mit donnernder Stimme. Sein Körper sitzt still an seinem Lesepult, aber die Kraft seiner Stimme tost durch die Nacht. Da sind sie, die Helden, die Kriegsmänner aus der alten Zeit. Der Kampf um die schöne Helena entbrennt. Und die Helden ringen um Ehre, Gunst und Sieg. Sie streiten mit den Göttern. Und das Meer tost im Hintergrund. Die Zuhörer werden zu Mitstreitern der Belagerung Trojas.

Und wieder ganz andere Geschichten erzählen Inge Jens und Arno Luik. Sie führen auf der Bühne ein Gespräch. Interviews sind es, die Arno Luik gemacht hat – für den „Stern“ zum Beispiel mit Boris Becker, Joschka Fischer, Thomas Buergenthal, Angelika Schrobsdorf, Inge und Walter Jens… Sie erzählen vom Heute, aus dem Hier und Jetzt. Geschichten aus Deutschland. In seinem Buch „Wer zum Teufel sind sie nun?“ stellt Arno Luik provozierende Fragen. Auf der Bühne ist es aber die zweiundachtzigjährige Inge Jens, die dem Journalisten Fragen stellt – und es entfaltet sich ein bunter Teppich von überraschenden Aussagen mächtiger Menschen durch die Stimme des Interviewers. Die Zuhörer sitzen betroffen da. Denn sie sind ein Teil der Geschichten. Nicht, weil sie „dabei waren“, nein, weil sie „dabei sind“ – weil sie leben, hier und jetzt in Deutschland.

Geschichten, die sich selbst erzählen. Geschichten, die der Mann kaum im Stande war zu denken. All die Liebesgeschichten und die Leidensgeschichten, die großen und die kleinen, die Geschichten, die aus Worten bestehen und die schweigenden Geschichten – die erzählbaren und die nicht erzählbaren. Er wird still. Und für den Moment hat er den Mut verloren, seiner eigenen Geschichte nachzugehen. Das, was er hier erlebt hat berührt ihn sehr. Betroffen sitzt er am späten Abend bei einem Glas Wein in der lauen Nacht und spürt den Geschichten nach. Eines Tages – vielleicht morgen – wird er sich auf seine Geschichte zu bewegen. Sie blinzelt ihm am nächtlichen Himmel schon entgegen.

Sonntag, 17. Mai 2009

Begegnung. Die Elias-Initiativgemeinschaft.

Liebe Brigitte. Jetzt bist du 50 Jahre alt geworden und dazu möchte ich dir herzlich gratulieren. So ein runder Geburtstag – Grund genug einmal zurückzuschauen und die vielen Jahre und Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Zumindest die, die uns beide betreffen und an die ich mich erinnere. Denn gerade die Erinnerung ist ja das, was wir mitnehmen in die Zukunft. Bewußt und unbewußt. Die Erinnerung wohnt in unseren Herzen und gehört nur uns. Wenn wir sie aber teilen, dann kann daraus wieder etwas Neues entstehen. Was haben wir gemeinsam erlebt? Und was ist davon für diesen Blog von Bedeutung, den uns bekannte und vielleicht auch unbekannte Menschen lesen?

Wir sind uns aus einem bestimmten Grund begegnet. Es war das Buch „Über die Rettung der Seele“ von Bernard Lievegoed. Jelle van der Meulen hat das Diktat des auf dem Sterbebett liegenden alten Mannes entgegengenommen und ein Buch daraus gemacht. Du hast, mit zwei anderen Menschen, die Initiative ergriffen und ein Seminar darüber angeboten. Auf der griechischen Insel Santorini sollte es stattfinden, wir sollten in Höhlen wohnen und würden inhaltlich an den Themen über die drei Geistesströmungen arbeiten – so hieß es in der Ankündigung.

Ich hatte damals drei kleine Kinder – so, wie du ja auch! – und ich wußte gar nicht, wie ich so eine Reise verwirklichen konnte. Mich hatte das Buch aber so tief berührt, mir so aus der Seele gesprochen und mich so bewegt, so dass sich mir plötzlich Wege öffneten, meinen Wunsch zu realisieren. Und so begegneten wir uns. Zuerst auf dem Münchner Flughafen. Ich sehe dich heute noch vor meinem inneren Auge, mit deinem prächtigen Haarschopf, deinen leuchtenden Augen und der Freude, uns alle auf dieser Reise zu begrüßen.

Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als wir auf Santorini nicht zusammen saßen und versuchten die Worte und die großen Geschehnisse und die dahinter liegenden Geheimnisse aus dem Buch zu untersuchen - Textarbeit zu machen - sondern freie Gespräche führten. Hitler war ein Thema, das Dritte Reich mit dem Holocaust, eine Frau erzählte von ihrem Abgrund ein Kind abgetrieben zu haben, eine andere vom Tod ihrer Tochter, es ging um Betroffenheit, persönliches Erleben, Schmerz - aber auch Freude. Wir gingen abends gemeinsam an den Hafen um frischen Fisch zu essen, tanzten in der Nacht und hatten eine unglaublich intensive Zeit auf Santorini.

Für mich eröffnete sich bei diesem Seminar eine neue Welt - eine Kultur des Herzens, und das prägt mein Leben bis heute. Das Seminar damals war ein Grundstein für eine neue Zusammenarbeit zwischen Menschen. Ein immer größer werdender Kreis von Menschen bildete sich. Wir trafen uns Wochenende für Wochenende – oft im Blauen Haus. Von allen Seiten reisten wir an, von Flensburg und Lyon, Amsterdem und Kassel. Wir gründeten sogar einen Verein. Und als ich dann später für einige Jahre auf dem Papier die erste Vorsitzende wurde, warst du, glaube ich, ein wenig gekränkt. Ich glaube, dass du dir gewünscht hättest, dass wir dich fragen. War das so?

Aber unsere Begeisterung war noch immer groß. Ein Seminar fand nach dem anderen statt. Immer wieder in Griechenland. Dann in Deutschland, in Bad Gandersheim. Erinnerst du dich noch daran? Christine Ballivet tauchte auf. Und sie hat unserer Beschäftigung mit dem Manichäismus sowohl Flügel verliehen als auch Wege in die Unterwelt geöffnet. Und überhaupt haben sich damals auch die Tore zur Unterwelt geöffnet. Erste schmerzliche Auseinandersetzungen konnten wir nicht lösen, nicht gemeinsam tragen – so dass sich Abgründe öffneten.

Trotzdem sind über all die vielen Jahre immer mehr Menschen gekommen. Zu den Seminaren der Elias-Initiaitvgemeinschft. In die Schweiz, nach Holland, nach Frankreich, nach Deutschland - wo immer ein Seminar stattfand. Dann entwickelte sich Adventura. Und obwohl du noch immer dabei warst, zogst du dich für meine Begriffe etwas zurück. Du bist Elias treu geblieben – bis heute. Und es finden noch immer kleinere Treffen, Seminare und Reisen statt.

Damals sind viele Menschen zusammen gekommen. Und auch wieder auseinander gegangen. Wir haben den Verein aufgelöst und es gibt keine offizielle Elias-Initiativgemeinschaft mehr. Wir alle sind verstreut und jeder ist an einem anderen Ort tätig. Jeder von uns trägt aber die Erinnerung an die intensive, gemeinsame Zeit in seinem Herzen und ich glaube nicht, dass auch nur einer davon unberührt geblieben ist.

Liebe Brigitte, es ist großartig, dass du damals mit deinen Freunden die Initiative ergriffen hast und die ersten Seminare „Über die Rettung der Seele“ auf Santorini stattgefunden haben – sonst wären wir uns vielleicht nie begegnet! Alles Gute zu deinem heutigen Geburtstag von Sophie

Montag, 11. Mai 2009

Erwachsenenbildung heute. Nachspüren und Spuren hinterlassen.

Erwachsenenbildung findet zwischen Erwachsenen statt. Im Gegensatz zur akademischen Definition dieses Begriffes bezieht sich mein Verständnis auf das Alter der Beteiligten und dadurch den Erfahrungshorizont der „Lernenden“. Nur dadurch grenzt er sich vom Lehren und Lernen mit Kindern und Jugendlichen ab. (In der Wissenschaft bezieht sich der Begriff auf alle die Bildungsereignisse, die nach einer ersten Ausbildung stattfinden. Das Geschehen an der Universität wird also nicht als „Erwachsenenbildung“ definiert.)

Was heisst es aber ein Erwachsener, erwachsen zu sein? Meistens sprechen wir von Menschen ab ca. einundzwanzig Jahren. Ausserdem geht man von einer körperlichen und einer mehr oder weniger ausgeprägten mentalen, emotionalen und moralischen Reife aus. Grunderfahrungen des Lebens wurden gemacht, erste Ideen über die eigene Positionierung und Identität haben sich entfaltet und ein Zugang zur Welt hat sich gezeigt. Der erwachsene Mensch übernimmt Verantwortung für sich. Er entscheidet (mehr und mehr) eigenständig, wohin er geht, was er macht, was er will und wie er seine Ziele umsetzt. Erwachsen ist man also sehr lang – die längste Zeit seines Lebens.

Der Begriff der Bildung bezieht sich nun sowohl auf den Prozess des „sich bildens“ als auch auf den Zustand „gebildet zu sein“. Ein „Lernender“ in der Erwachsenenbildung will sich also bilden, während es die Voraussetzung für einen Lehrer, Dozenten oder Ausbilder ist, in irgendeiner Weise so gebildet zu sein, damit „etwas“ weitergegeben werden kann.

Die entscheidende Frage, die mich beschäftigt ist aber nicht was gelehrt wird, sondern wie. Wie begegnen sich Erwachsene in Ausbildungssituationen, wenn der eine die Rolle des Lehrenden und der andere die Rolle des Lernenden inne hat?

In Bezug auf Lehr- und Lernprozesse hat meines Erachtens der Konstruktivismus wesentliche Beitäge geliefert. Auch wenn ich grundsätzlich nicht mit der Weltauffassung, dass es keine „gemeinsame“ Realität gibt, keinen gültigen Wahrheitsbegriff und vor allem, dass jegliche Weltbegegnung an eine materialistische Anschauung gekoppelt ist, so faszinieren mich aber die Konsequenzen, die der Konstruktivismus in Bezug auf die Erwachsenenbildung ableitet.

Einen traditionellen „Lehrer“, der das große Wissen hat, und es dem unwissenden und unerfahrenen „Schüler“ nur einzutrichtern braucht, gibt es nicht mehr. Lehrende und Lernende stehen grundsätzlich auf einer gemeinsamen Ebene. Das bedeutet, dass der Lernende viel mehr Verantwortung für seinen eigenen Lernprozess übernehmen muss als traditionell und der Lehrende zum Gestalter von „Lernarrangements“ wird. Ein sich immer weiter verbreitender Begriff ist der des „Lern(prozess)begleiters“. Das ist ein holpriges und langes Wort – drückt aber meines Erachtens genau das aus, was Erwachsenenbildung ausmacht. Ohne die Einbeziehung von Vorerfahrungen, Wünschen, Hoffnungen und individuellen Möglichkeiten lässt sich heutzutage keine Lehr- und Lernsituation mehr gewinnbringend und respektvoll durchführen.

Der Begriff des Lernens hat heute meistens eine negative Konnotation. Vokabeln lernen, etwas machen, was man nicht kann, oder sogar nicht will, Schwierigkeiten und Hürden überwinden, Resultate erreichen die in weiter Ferne leuchten etc.
Gleichzeitig ist evident, dass unser ganzes Leben aus Lernprozessen besteht. Kaum jemand arbeitet heute noch sein Leben lang in dem Beruf, den er als junger Erwachsener erlernt hat und auch das alltägliche Leben fordert ständig Lernprozesse: wie verwalte ich mein Konto online, welche Bescheinigungen brauche ich an welchen Stellen, wie funktioniert die neue hightech-Espressomaschine u.v.m.

Das Wort „lernen“ kommt etymologisch von „leisten“ und bedeutet ursprünglich: einer Spur nachgehen, etwas nachspüren. „Ich weiß“ (vom Verb „wissen“) bedeutet also: „ich habe nachgespürt“. Auf diese Weise wird der Begriff des Lernens auf eine ganz individuelle Ebene gehoben. Es geht also darum für etwas ein Gespür zu entwickeln. Und welche Bedingungen braucht es, damit man so etwas wie ein Gespür entwickeln kann, damit ein nachhaltiger Lernprozess entsteht? Möglichkeiten, menschlichen Austausch und eine Sache, ein Ding, eine Forschungsfrage.

Ein fähiger Erwachsenenbildner wird also zum „Möglichmacher“ für seine Studenten, in dem er ihnen Möglichkeiten schafft sich zu bilden, sich zu verändern, etwas zu lernen, Wissen zu erlangen. Er ist ein ebenbürtiger „Mitmensch“ auf der Ebene der menschlichen Begegnung und ein „Diener“ für die Sache, die erforscht oder untersucht wird. (Nicht selten muss ein Dozent (Professor) auf Grund der Forschungstätigkeiten seiner Studenten respektvoll zurücktreten, wenn es um die Ergebnisse oder Resultate der neuen Forschung geht.)

In einer guten Erwachsenenbildungseinrichtung bekommen die Lernenden, die sich bildenden Menschen die Möglichkeit eine „Spur zu verfolgen“, individuell „etwas nachzuspüren“, während der Lehrer, Dozent oder Ausbilder durch seine Erfahrung und seine Grundhaltung eigene „Spuren“ in seinem Metier „hinterlässt“ ohne die Lernenden zu indoktrinieren.

Montag, 4. Mai 2009

Die Götter zürnen. Über die erste Freundschaft auf Erden.

Vor ein paar Tagen habe ich wieder einmal eine deutsche Übersetzung des ältesten Epos der Menschheit in die Hände bekommen, das uns überliefert ist: das Gilgamesch-Epos. Es ist ungefähr 5000 Jahre alt. Es heißt, dass es die bedeutendste literarische Schöpfung des Zweistromlandes und das erste - in Keilschrift! - niedergeschriebene literarische Werk der Menschheit überhaupt sei. Es hat lange gedauert bis es gefunden, übersetzt und veröffentlicht wurde und es erzählt eine wundersame Geschichte über die Freundschaft.

Ich habe es jetzt gelesen, ja regelrecht verschlungen. Es ist mir fremd und sehr vertraut zugleich. Etwas erklingt in mir. Die Namen und Worte, Klänge und seltsamen Laute leben schon lange warm in meiner Seele – haben ein Zuhause in mir gefunden, obwohl ich so gut wie nichts davon erklären kann.

Ich habe die Geschichte schon einmal gehört. Als Erzählung. Das ist schon lange her. Ich war noch ein Kind. Es war damals etwas ganz Neues für mich. Worte, Zusammenhänge, Namen und Geschehnisse, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ja, geschweige denn, dass ich irgendwie eine konkrete Vorstellung davon gehabt hätte. Ich glaube, ich war damals völlig verzaubert. In meinem Elternhaus wurde über gänzlich andere Dinge gesprochen. Ich kam aus aufgeklärtem, modernem Hause, war mit der Welt der Sagen und Legenden, Märchen oder Mythen nicht vertraut. Die Worte, die in meiner Familie gesprochen wurden, hatten mit der diesseitigen und hiesigen Welt zu tun, mit dem, was gerade in Deutschland geschah und wie man sich dazu zu verhalten habe. Dass die Welt früher anders ausgesehen hat, und dass es so etwas wie „Babylonien“ gab, dass wusste ich eigentlich nicht. Es spielte in meinem Alltag keine Rolle.

Ich war zehn Jahre alt, als ich in die Waldorfschule kam und die erste Epoche, die mir entgegenkam, war „Urgeschichte“. Ich hatte keine Vorstellung davon, was das sein könnte. Unsere Klassenlehrerin erzählte uns von den wundersamen Begebenheiten um die beiden Helden. Wir übten Keilschrift. Malten Bilder. Erzählten das Geschehen nach. Ich tauchte in diese Welt ein. Tief und ohne Fragen. Fühlte mich aufgenommen, zu Hause angekommen. Und „verstand“ nichts davon. Ich sog die Worte „Gilgamesch“, „Eabani“, „Utnapischtim“ und „Uruk“ auf – solche Buchstabenkombinationen kannte ich noch nicht.

Gilgamesch und Eabani (so, wie Enkidu damals genannt wurde, denn die „richtige“ Übersetzung des Namens wurde erst später entdeckt) suchen, finden und verlieren einander. Zunächst steht jeder für sich. Gilgamesch ist Herrscher über Uruk. Eabani ein „wilder“ Mensch, der erschaffen wird um Gilgamesch erst Gegenspieler und dann Mitspieler zu werden. Eine Tempelpriesterin verführt ihn in der Steppe und lockt ihn so in die Stadt. Nachdem sich die beiden Männer in die Augen geschaut haben, kämpfen sie miteinander. Sie erproben und erleben ihre Ebenbürtigkeit und werden dann Freunde. Richtige Freunde. Sie „rechnen“ miteinander, bauen aufeinander, blicken einander an. Sie „wollen“ etwas miteinander und tun das auch. Die Bruchstücke der Überlieferung berichten uns davon, dass sie gemeinsam wirkliche Abenteuer erleben. Die beiden sind also nicht mehr allein, nicht mehr jeder für sich. So, wie sie es lange waren. Nein, sie sind zu zweit. Vielleicht die ersten „Freunde“ auf Erden.

Die Zeit der „göttlichen Menschen“ neigt sich dem Ende zu. Gilgamesch, nur zu einem Drittel Mensch, und Eabani, ganz und nur Mensch, begegnen einander tief. Zwei Männer also, die sowohl in ihrer Stärke, als auch in ihrer Schwäche präsentiert werden. Sind sie es, die uns das Ur-Bild der Freundschaft schenken? Einer Begegnung mit Folgen? Gleichzeitig zeigen sie uns, dass ihre Freundschaft ein unmögliches Unterfangen ist. Die Götter zürnen ihnen und lehnen sich gegen die Freundschaft auf.

Und da die Götter noch immer die Macht haben, entfachen sie das irdische Drama: Eabani stirbt – denn die Götter wollen seinen Tod. Eabani hat keine göttlichen Anteile. Ist ganz und nur Mensch. Er muss sterben. Gilgamesch stürzt daraufhin innerlich in einen tiefen Abgrund. Er kann den Tod seines Freundes nicht verschmerzen. Der große und mächtige Herrscher der Stadt Uruk ist geknickt. Völlig aufgelöst. Verzehrt sich fast gänzlich. Er macht sich auf die Reise zu Utnapischtim. Um Trost zu finden. Sich Rat zu holen. Um das ewige Leben zu suchen. Denn er kann keine Ruhe finden. Aber es gelingt ihm nicht.

Nach langer Wanderung kann er die Aufgabe des weisen Alten nicht vollbringen, er soll sieben Tage und Nächte wach bleiben. „Bewusst“ sein. Aber er schafft es nicht. Er schläft ein. Wird also nicht eingeweiht. Und dennoch bekommt Gilgamesch das Lebenskraut geschenkt. Aber wie es so ist, in den großen Geschichten und dem einfachen Leben: eine Schlange entwendet Gilgamesch das Lebenskraut.

Betrübt und niedergeschlagen und unglücklich kehrt der verwundete Held in die Stadt Uruk zurück. Als magerer Trost für sein Scheitern bleibt ihm letztlich nur der irdische und vergängliche Stolz auf die von ihm errichtete Stadtmauer. Sein Freund Eabani bleibt fort, tot und unerreichbar für ihn. Die Materie verwittert zu Staub. Gilgamesch bleibt allein. Mit diesem Unglück endet die Erzählung.

Ob sich die beiden wiedersehen? Ob ihre Freundschaft in einer späteren Inkarnation Früchte trägt? Ob sich das Blatt einmal wendet und Eabani den irdischen Schmerz durchläuft? Oder ob sie eine ganz und gar glückliche und erfüllte Begegnung haben?

Fragen über Fragen. Diese Geschichte bringt keinen Trost. Ist aber ein Urbild für das menschliche Schicksal. Kein klassisches Liebesdrama, nein, eine tiefe und verzweifelte Freundschaftsgeschichte. Und so wundersam, wie die Klänge der Namen der beiden Helden sind, die in ihrem Schmerz verglühen, schenkt die Erzählung doch ein wenig Licht, wenn ich daran denke, dass es die Menschheit auch heute, 5000 Jahre später, noch gibt. Das Urgeschehen trägt – denn es ist der Menschen Schicksal.

Freundschaft und Schmerz, Gilgamesch und Eabani, Leben und Tod – das ist das Schiff auf dem wir durch das Leben segeln. Die unvergessenen Wortklänge in unseren Herzen weisen uns den Weg durch Tragödien und Dramen, Liebe und Erfüllung. Die Götter haben mittlweile verstanden, dass wir Menschen Freundschaften brauchen.