das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
sophie pannitschka
Wenn ich heute durch die Altstadt von Florenz laufe, sind es weitgehend die gleichen Steine, über die auch die Menschen vor über fünfhundert Jahren gegangen sind, die gleichen Paläste, Burgen und Häuser, ja das Stadtbild hat sich, trotz der langen Zeit, kaum verändert. Es scheint so, als ob die Stadt auch heute noch darauf wartet, dass das, was damals entstanden ist Früchte trägt.
Was wir heute neben den Gemäuern mit ihrer speziellen Aura zur Verfügung haben, sind die Aufzeichnungen, Beschreibungen, Dichtungen und Briefe der Menschen, die sich um das ungekrönte Herrscherhaus der Medicis am Ende des 15. Jahrhunderts versammelt haben. Und es ist erstaunlich, was sich alles rekonstruieren lässt. Namen können genannt werden, Ereignisse, Verhältnisse, ja das Leben, Leiden und Lieben lässt sich nachvollziehen.
Lorenzo, genannt il Magnifico, war der Mittelpunkt. Uneingeschränkt. Nicht nur Kraft seines Amtes, seiner finanziellen Mittel und seines politischen Geschicks, sondern, weil er die Zeichen seiner Zeit verstanden und umgesetzt hat. Obwohl es heißt, dass Lorenzo hässlich anzusehen war, scheint es, dass er ein wunderbarer Liebender war, der seine Gefühle und Sehnsüchte auch als Dichter zum Ausdruck bringen konnte. Ausserdem hatte er einen Zugang zu philosophischen Fragen, feierte gerne Feste, unterstützte die Künste jeglicher Art und schenkte der Stadt eine blühende Zeit. Dank seines Großvaters, Cosimo Pater Patriae, hat er schon in jungen Jahren ein sensibles Gespür dafür entwickelt, was der Zeit Not tat. Von seinem 21. Lebensjahr an übernahm er für die folgenden 21 Jahre die Geschicke der Stadt.
Die Zeit war geprägt vom Aufbruch, Neues wurde möglich und vieles geriet in Bewegung. Schon Cosimo hat die Platonische Akademie aus der Taufe gehoben und Lorenzo hat das Kind gepflegt. Kein geringerer als Marsilio Ficino hat begonnen, die Platon-Texte zu übersetzen. Um ihn fand sich ein Kreis von Philosophen und Gelehrten, schlicht Menschen mit offenen Herzen und geistigem Hunger, die begannen die Welt neu zu sehen, neu zu verstehen. Angelo Poliziano war dabei, Pico della Mirandola, Christoforo Landino und viele andere. Auch der Bildhauer, Maler, Künstler und Architekten gäbe es viele zu nennen.
Interessant ist, dass sich die Männer, denn von den Frauen wissen wir nicht viel…, in verschiedenen Positionen, Rollen und Verhältnissen begegneten. Der eine war dem anderen nicht nur Lehrer, sondern gleichzeitig Geliebter, Untergebener, Erzieher seiner Kinder oder gar Diener, Beichtvater, „Kollege“, Mäzen, Freund, „Möglichmacher“ oder einfach herzlich zugeneigter Mitmensch. Lorenzo konnte „sehen“, er hat es geschafft, vielen seiner Mitmenschen die Entfaltung ihres Potenzials zu ermöglichen.
Was „Florenz“ damals nicht konnte, war Krieg führen. Lorenzo war kein Mann der Waffe. Diplomatisch ging er vor – il Magnifico selbst begab sich in die Fänge des Königs von Neapel um den Zwist mit dem Papst zu beenden. Obwohl tief christlich veranlagt scheute er auch die Exkommunikation nicht. Das menschliche Wort bekam eine neue Bedeutung.
Zu seinen Lebzeiten gelang all dies. Heute ist sein Sterbetag – Lorenzo starb 43jährig am 8.4.1492 nahe Florenz in seiner Villa in Careggi. Nach seinem Tod nahm die Geschichte ihren Lauf. Pico und Poliziano wurden ermordet (von Ficino?), Michelangelo geriet in die Fron des Papstes, Lorenzos Sohn und Nachfolger Piero unterwarf sich dem französischen König, Savonarola begann sein Unwesen zu treiben. Das Schicksalsnetzwerk bröckelte auseinander, der Mittelpunkt fehlte.
Physisch können wir heute nur noch zwischen den toten Steinen umherstreifen, aber ätherisch ist der Kreis der Humanisten nah, denn sie suchen ihre eigene Fortführung – und geistig gilt es weiterhin um die Vereinigung des Platonischen mit dem Aristotelischen zu ringen.
Neue Schicksalsnetzwerke dürfen entstehen um das Werk forzuführen. Jeder von uns kann dabei sowohl Mittelpunkt als auch Knotenpunkt sein, jeder an seinem Ort, mit seinen Themen und seinen Gefährten. Einander sehen, hören, unterstützen und Wege bereiten. Jeder als „Bildhauer“ seines eigenen Lebens und durch die Unterstützung des Anderen.
Lorenzo il Magnifico hat seinen Beitrag gegeben – jetzt, so scheint es, sind wir dran.
Als Kind kam ich immer von Norden. Mit dem Zug. Und weil die schnellen Züge in Stuttgart entweder nicht weiterfuhren, oder in andere Richtungen abbogen - warum fahren eigentlich nicht alle Züge nach Tübingen? - holte mich meine Großmutter immer schon dort ab und wir fuhren dann den Rest der Strecke zusammen mit einem langsamen Regionalzug, der in der kleinen schwäbischen Universitätsstadt tatsächlich seine Endstation hatte. Tübingen war das Ende der Welt. Dahinter gab es nichts mehr. Das machte auch der Berg mit dem Tunnel nahe dem Bahnhof deutlich, von dem meine Großmutter sagte, dass es dahinter nichts mehr gäbe. Ungefähr so, als ob die Welt dort zu Ende sei. Nach Tübingen gibt es nichts mehr. Aber das war auch nicht schlimm. Denn mein Ziel war ja Tübingen. Ich kam von Norden und immerhin reichte die Welt bis Tübingen. Dass der Busbahnhof „Europaplatz“ hieß kam mir schon damals irgendwie gewagt vor.
Aber sie war da, diese kleine Stadt, in der ich von meiner Großmutter verwöhnt wurde und in der es ein Schloss gab, eine Altstadt und viele Fachwerkhäuser. Es gab dort „Schleckerle“, den kleinen Süßigkeitenladen an der Ecke, in den wir immer wieder gingen, und in dem ich mir die wunderbarsten Süßigkeiten aussuchen durfte. Englische Weingummis, Karlsbader Oblaten. So etwas gab es im Ruhrgebiet, wo ich her kam, nicht. Und mein Bruder und ich durften uns etwas zu essen wünschen, - sogar bürgerliche Hausmannskost! - ganz so, wie es bei den Bilderbuch-Großmüttern ist. Die Welt war anders in Tübingen, als ich es gewohnt war - es gab zum Beispiel einen Spielzeugladen - Dauth - in dem ich meine erste - heißersehnte - Plastikpuppe bekam! Damals sehr modern. Allerdings hatte meine Großmutter dann einen heftigen Streit mit meinen Eltern auszufechten… Ich nannte sie Sascha, meine Puppe. Ich fand den Namen so schön und wollte gar nicht einsehen, dass das ein Jungenname sein sollte… Tübingen mit seinen verwinkelten Gässchen, seinem Kopfsteinpflaster und der alten großen Kirche. All das gehörte unmittelbar zum Flair meiner Großmutter. Ihre Wohnung lag an der großen Mühlstraße - der Hauptstraße des Städtchens - über dem Schreibwarenladen Betz. Dort, in ihrer Wohnung fühlte ich mich aufgehoben. Nichts war so wie zu Hause, es gab Schränke mit Glasscheiben davor, Geschirr für besondere Anlässe, Vorhänge die zugezogen wurden, ein richtiges Wohnzimmer mit einem großen Sofa - schlicht eine Ordnung, in die ich mich hineinfallen lassen konnte, ohne, dass sie die meine war.
Manchmal gingen wir die Mühlstraße hinauf, bis zum Lustnauer Tor und dort, so sagte meine Großmutter, fing das Leben der Studenten an. Ich verstand wohl auch, dass die Straße an dieser Stelle ihren Namen wechseln musste, nun hieß sie plötzlich Wilhelmstraße. Bestimmt gab es einen wichtigen Wilhelm, von dem ich auch erfahren würde, wenn ich groß wäre… Dort also ging es anders zu, studentisch eben - what ever that could be. Als Kind stellte ich mir lange vor auch einmal dort zu studieren. In diese großen und erhaben aussehenden Gebäude zu gehen, um mich dort belehren zu lassen….
Viele Jahre hat es gedauert, bis ich wieder nach Tübingen kam. Diesmal von Süden. Und mit dem Auto. Tatsächlich geht die Welt also hinter Tübingen noch weiter - nicht so gewichtig natürlich, aber immerhin. Ich komme von Süden und Tübingen avanciert zum Anfang der Welt, zum Anschluss an die Welt. Der Welt der Universität. Des Wissens. Der Erkenntnisse und kulturellen Ausgangspunkte… An jedem Studientag fahre ich die Mühlstrasse hinauf, am Schreibwarenladen Betz vorbei, übers Lustnauer Tor hinaus - und die Wilhelmstraße entlang. Mich empfängt - wenn man das so nennen darf - ein anderes Gebäude, die Neuphilologische Fakultät - der Brechtbau eben. Keines der alt-ehrwürdigen Gebäude, sondern ein Betonklotz aus den 70er Jahren. So ein Gebäude eben, wie ich es aus meiner Kindheit kenne. Die Neubau-Hochhaus-Siedlung aus grauem Beton war schließlich mein Zuhause…
Hier im Brechtbau empfängt mich keine Herzlichkeit - nein, es ist der Drang nach Wissen, der mich getrieben hat, mich in solch einem grauen, kalten, kahlen, unpersönlichen und formalen Gebäude länger aufzuhalten. Sehr praktisch alles. Aber, vollkommen unbewohnt. Die Menschen strömen ein und aus, keiner gestaltet hier, sondern ein jeder zieht sich zusammen und beschränkt sich auf die Vorhaben die ihn leiten. Und dennoch, in den überfüllten Hörsäälen, die mit Neonlicht ausgestattet sind und den Charme der Postmoderne auf groteske Weise nach außen kehren, lassen sich Gedichte vernehmen. Es wird über Prosa gesprochen. Autoren werden durch ihre Worte sowohl lebendig und zu Zeitgenossen - als auch als tot beklagt. Dramen werden zerpflückt und analysiert. Ideen und Gestalten tauchen auf. Walter Benjamin erscheint, Rilke lässt seine Stimme erklingen, mittelalterliche Epen lassen sich entschlüsseln. Linguistische Fragestellungen streifen mein Ohr, Kulturtheorie - was ist das schon wieder? - Literaturwissenschaft und viele, viele neue Worte suchen ein Zuhause in mir. Wie gut dass es den Duden gibt…
Wie konnte ich leben, als ich von all den Dingen noch kaum etwas wusste, geschweige denn die Worte verstand? Geschichte berührt mich, philosophische Fragen - ist es wichtig zu wissen, was Kant wirklich gesagt hat? und, wie war das mit Platon und seiner Ideenwelt? - sozial- und erziehungswissenschaftliche Themen tauchen auf, Sprachen gilt es zu verstehen und Texte zu schreiben. Es werden Noten verteilt - und eine große Anonymität trägt die studentische Woge von Semester zu Semester. Menschlich ist das schon speziell - ich glaube, ich war noch nie so sehr auf mich gestellt - aber das war auch das Geschenk, dieser Studentenjahre in gehobenem Alter…
Ob ich das wohl alles mitgemacht hätte, wenn es das Tübingen meiner Kindheit nicht gäbe? Meine Großmutter, nun auf dem Bergfriedhof, blieb immer in meiner Nähe. Ihr verdanke ich Tübingen. Mein Tübingen, Anfang und Ende der Welt in einem.